Gustavo Esteva – Hoffnung von unten – Das besondere Prinzip des Zusammenlebens in Oaxaca

Gustavo Esteva

Von Juni bis Oktober 2006 gab es in Oaxaca de Juárez, einer Stadt mit 600.000 Einwohnern, keine Polizei, nicht einmal Verkehrspolizisten. Der Gouverneur der Provinz traf sich mit seinen Funktionären heimlich in Hotels oder Privatwohnungen; in ihre Büros wagten sie sich nicht. Die Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO), die Volksversammlung der Völker Oaxacas, hatte alle öffentlichen Gebäude sowie Rundfunk- und Fernsehstationen rund um die Uhr bewacht. Als der Gouverneur veranlasste, diese Wachen in den Nachtstunden anzugreifen, errichteten die Menschen Straßenbarrikaden.

Einige Beobachter dieser Ereignisse fühlten sich an die Pariser Kommune von 1871 erinnert, und so war mitunter von der Kommune Oaxacas die Rede. Die Analogie ist zwar einleuchtend, vielleicht aber auch etwas gewagt, sieht man einmal von der Reaktion ab, die beide Volksaufstände in den jeweiligen Zentren der Macht auslösten. Wie die europäischen Armeen, die die Pariser Kommune niederschlugen, schlug die von Armee und Marine unterstützte mexikanische Bundespolizei PFP (Policia Federal Preventiva) den Aufstand vom 25. November 2006 gewaltsam nieder. Natürlich konnten sie sich dabei nicht der Methoden des 19. Jahrhunderts bedienen, doch angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen kann das Vorgehen der Polizei nur als Staatsterrorismus bezeichnet werden.

Die APPO bleibt ein Rätsel, selbst für diejenigen, die ihr angehörten. Aus einer breiten Rebellion gegen einen tyrannischen Gouverneur entstand allmählich ein gesellschaftliches Experiment, das im Bundesstaat Oaxaca mit seinen 3,9 Millionen Einwohnern die Regierungsformen der indigenen Bevölkerung, die die Mehrheit der Menschen stellen, einführen wollte. Die brutale Niederschlagung des Aufstands bewirkte zwar eine Unterbrechung dieses Experiments, nicht aber dessen Ende. Es setzte sich in anderer Form in den Gemeinden und Stadtvierteln fort, überall dort, wo die Menschen auch weiter ihre politische Autonomie ausübten.

Nach wie vor prägt das gemeinschaftliche Zusammenleben die meisten der 13.000 Gemeinden in Oaxaca, ein Zusammenleben, in dem das Hauptgewicht auf den gemeinschaftlichen Verpflichtungen, nicht auf den individuellen Rechten liegt. Keine wichtige Entscheidung kann ohne die ausdrückliche Zustimmung der Gemeindeversammlung getroffen werden, in der alle Familien beteiligt sind, einen Konsens herzustellen. Einige Ungleichheiten werden auf einfache Weise ausgeglichen. Kommt etwa jemand, der in den USA gearbeitet hat, mit vielen Dollars zurück, wird er als guter »mayordomo«1 die meisten davon auf der nächsten Fiesta ausgeben und sich dafür Ansehen in der Gemeinde erwerben. Jede Familie rechnet fest mit der Hilfe der Nachbarn. Viele Häuser werden in Nachbarschaftshilfe errichtet, ein Prinzip, das auch beim Feldbau und bei den Erntearbeiten Anwendung findet. Gerechtigkeit heißt, dass eine Straftat Trost und Entschädigung für das Opfer erfordert und nicht unbedingt die Bestrafung des Täters. Und dies wird durch die Weisheit der Gemeinschaft ermöglicht, nicht durch Gerichtsverhandlungen, Anwälte oder Gefängnisse. In den meisten Gemeinden ist jedes Ich immer noch ein Wir.

Der von zwei indigenen Intellektuellen aus Oaxaca geprägte Begriff der »comunalidad« könnte die Vitalität und Komplexität dieser Prozesse erklären helfen. »Comunalidad« kann übersetzt werden als Commonalität. Der Begriff ergibt sich aus der Nebeneinanderstellung von Commons und Gemeinwesen und bezeichnet doch etwas Neues. »Comunalidad« definiert sowohl eine Reihe von Praktiken, die aus der kreativen Anpassung widerständischer Traditionen gegen den alten und neuen Kolonialismus entstanden sind, wie auch einen mentalen Raum oder Horizont, der verstehen lässt, wie man die Welt als ein Wir sieht und erfährt. Grundlage und eigentlicher Kern der »comunalidad« ist 1) das gemeinsame Territorium, auf dem 2) Autorität eine rein organisatorische Funktion erfüllt, die mit 3) gemeinschaftlicher Arbeit und 4) Festen beginnt und die Realität durch 5) eine vernakuläre Sprache2.« Und weiter: »Der radikale Wechsel von der vernakulären zur beigebrachten Sprache ist ein Menetekel des Wechsels von der Brust zur Flasche, von der Subsistenz zur Sozialhilfe, von der Produktion für die Nutzung zur Produktion für die Vermarktung […]« (Illich 1981: 44, 58).] erzeugt.

Da sind die abgestuften »cargos«, ehrenamtliche Gemeinschaftsdienste, an denen man schon sehr früh im Leben beteiligt wird. Die »tequios«, unbezahlte Gemeinschaftsarbeiten, die von jeder Familie geleistet, in den Gemeindeversammlungen festgelegt und von den örtlichen Autoritäten organisiert werden. Sie decken in den indigenen Gemeinden über die Hälfte der öffentlichen Arbeiten ab. Da ist die »guelaguetza«, ein komplexes System der Reziprozität, des Gebens und Nehmens, in dem gegenseitige Hilfe sowie der materielle, symbolische und emotionale Austausch eine Rolle spielen, insbesondere in den Schlüsselmomenten des Lebens, in denen sowohl gemeinschaftlicher Besitz wie auch persönliche Freiheit als ethische Prinzipien der »comunalidad« geprägt werden. »Guelaguetza« ist aber auch ein normativer Rahmen, der die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen verwebt, der neue Beziehungen erschafft – zwischen ihnen, den Göttern und den Toten – und so das gemeinschaftliche Territorium immer wieder neu begründet. In der »guelaguetza« sind das Geben und das Nehmen manchmal aneinander gebunden, um das Prinzip der wechselseitigen Verpflichtung zwischen zwei Personen oder Familien zu stärken; allgemein aber impliziert Reziprozität eine Haltung des offenen Gebens an andere und an die Gemeinschaft, getragen von dem Vertrauen, dass die anderen und die Gemeinschaft einem helfen, wenn man der Hilfe bedarf.

Das alles und mehr ist »comunalidad«, die trotz des von der Kirche, der spanischen Krone, dem mexikanischen Staat, der Marktwirtschaft und durch die Migration in die USA propagierten Individualismus in den meisten indigenen Gemeinden auch heute noch sehr lebendig ist. Die Kommune Oaxacas war ein gesellschaftliches Experiment mit dem Ziel, diesen Geist der Gemeinschaftlichkeit auf den ganzen Bundesstaat zu übertragen.

Das Land vor »Entwicklung« schützen

Diese Art des gemeinschaftlichen Lebens, die in jeder Gemeinde in Oaxaca eigene Züge trägt, hat in jüngster Zeit eine neue politische Dimension gewonnen. Wie in vielen anderen Teilen Lateinamerikas ist der Kampf um die Verteidigung des Territoriums neu und anders entbrannt.3 Die Menschen bringen ihr Wissen und ihren Widerstand zur Verteidigung ihrer Ressourcen zusammen, sie widersetzen sich »Entwicklungsprojekten« und drücken stärker ihre eigenen Vorstellungen dessen aus, was ein gutes Leben bedeutet.

Einige kämpfen nach wie vor für den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die für ein Lebensideal stehen, das einerseits den zeitgenössischen Entwicklungsbegriff prägte und andererseits zur Verlagerung einer einst traditionellen gesellschaftlichen Funktion auf die Regierungen, Unternehmen und Medien führte: zu definieren, was gutes Leben ausmacht. Staatliche Leistungen (der Bau von Straßen, Schulen und Gesundheitszentren, die Schaffung von Arbeitsplätzen usw.) werden nach wie vor als Grundvoraussetzung für die Beteiligung am sozialen Leben oder als Rechte wahrgenommen, die nicht aufgegeben werden dürfen. Legt man aber die verschiedenen Definitionen des guten Lebens zugrunde, das in Lateinamerika häufig als »Buen Vivir« bezeichnet wird,4 zeigt sich, dass sich immer mehr Praktiken ausbreiten, die diese Institutionen und Bedingungen quasi »umgehen«. In der Krise gewinnen sie an Sichtbarkeit, bieten kreative Überlebensmöglichkeiten in schweren Zeiten an und widersetzen sich erfolgreich den Megaprojekten, die in den Regionen gefördert werden.5

In vielerlei Weise drücken die Menschen durch ihre Praxis souverän einen kollektiven Willen aus, der ganz offen die Befugnisse der Regierungen herausfordert – was gemeinhin als Autonomiebestrebung vorverurteilt wird. Sie ist von den indigenen Völkern insbesondere nach dem Aufstand der Zapatisten 1994 aktualisiert und neu formuliert worden, umfasst zunehmend auch andere gesellschaftliche Gruppen und hat de facto neue Institutionen hervorgebracht: Immer mehr Menschen kontrollieren ihr Territorium und regieren sich selbst auf ihre je eigene Weise (Esteva 2010). Mit unter 10 Prozent sind die Indígenas in vielen Gebieten Mexikos eine Minderheit. Doch in ländlichen Regionen – wie in Oaxaca – stellen sie bis zu 85 Prozent der Bevölkerung. Auch in den einfachen Großstadtvierteln sind sie stark vertreten.

Der Kampf um Autonomie

Bis 1993 erschien die neoliberale Globalisierung als unentrinnbare Realität. Was Politiker und Wissenschaftler anboten, waren verschiedene Variationen eines offenkundig allen Menschen drohenden Schicksals. Echte Alternativen gab es nicht. Erst die Zapatisten zeigten sie auf. Tatsächlich manifestiert sich der Kampf um Autonomie vieler Initiativen und Bewegungen Lateinamerikas am ehesten in dem, was die Zapatisten auf den 250.000 Hektar Land geschaffen haben, das sie seit 1994 im an Guatemala angrenzenden mexikanischen Bundesstaat Chiapas kontrollieren. Sie begannen dort ein gesellschaftliches Experiment, das kein eindeutiges Vorbild kennt. Trotz größter Beschränkungen und nach 17 Jahren eigensinniger Zurückweisung jeglicher öffentlicher Mittel und trotz der Belagerung durch 30.000 Soldaten sowie unaufhörlicher Angriffe paramilitärischer Gruppen zeigen ihre radikalen sozialen Innovationen eine mögliche Form des Lebens in einer postkapitalistischen Welt (Esteva 1998, 2005).

Zapatistische Familien gestalten ihr Zusammenleben auf ihre eigene Weise. Sie nutzen traditionelle Praktiken und moderne Werkzeuge, um Grundnahrungsmittel, Kaffee und andere Produkte anzubauen, die sie im fairen oder solidarischen Handel verkaufen. Ihre Kinder gehen auf kostenlose »Schulen«, die auf gemeinschaftlichen Konzeptionen basieren und für die Gemeinschaft wichtige Themen – wie das ihrer eigenen Geschichte – aufgreifen. Sie nutzen traditionelle Heilverfahren, ergänzt durch eigene moderne Kliniken, wo sie Zugang zu anderen Heilmitteln und -verfahren haben. Sie errichten ihre eigenen Häuser und öffentliche Gebäude mit lokalen Baumaterialien und nach den lokalen Traditionen, angereichert durch Ideen aus anderen Teilen der Welt.

Eine der traditionellen Selbstverwaltung in den Gemeinden und Gemeinschaften Oaxacas vergleichbare Selbstverwaltung gibt es in Chiapas auch auf regionaler Ebene, und zwar in Form der »Juntas de Buen Gobierno« (Räte der Guten Regierung): Gewöhnliche Männer und Frauen, manche davon noch sehr jung, üben zeitlich befristet die ranghöchste Autorität für mehrere autonome Gemeinden und Gemeinschaften aus.

Im zapatistischen Territorium ist Land keine Ware, sondern ein Raum der Verantwortung. Land zu besitzen ist nicht gleichbedeutend mit seiner Aneignung oder dem Innehaben eines Eigentumstitels. Denn eine kosmozentrische Einstellung gegenüber der Natur schließt die Möglichkeit aus, sich Land zum Eigentum zu machen. Innerhalb des gemeinschaftlichen Territoriums wird das Land ohne Gewährung privater Eigentumstitel, aber unter Anerkennung verlässlicher familiärer Nutzungsrechte an die Commoners verteilt.

Die Menschen delegieren ihre Macht nicht an Repräsentanten, sondern die lokalen Gremien regieren gehorchend (»mandar obedeciendo«, sie führen also, dem Mehrheitswillen gehorchend, die kollektiv getroffenen Entscheidungen und Beschlüsse aus). Sie sind demnach keine hauptamtlichen Politiker oder Bürokraten, sondern gewöhnliche Männer und Frauen, die temporär regieren und dafür mit klaren Mandaten und Verantwortlichkeiten ausgestattet sind. Und sie können jederzeit ersetzt werden. So verschwindet der Abstand zwischen den Regierenden und den Regierten. Gerechtigkeit bezieht sich nicht auf die Durchsetzung formeller Regeln, die den Experten überantwortet wird, sondern sie wird praktisch ausgeübt, wofür ein schriftlich nicht fixiertes normatives System die Grundlage liefert. Es beruht auf der Vitalität sich verändernder Gebräuche und auf dem direkten Gespräch miteinander.

Der Kampf der Zapatisten um Autonomie kombiniert die Freiheit der Selbstbestimmung mit dem ernsthaften Versuch, durch interkulturellen Dialog neue Wege der politischen und kulturellen Gemeinschaftlichkeit mit anderen zu erkunden. Diese Haltung des radikalen Pluralismus erfordert auf der Suche nach einer harmonischen Koexistenz verschiedener Völker und Kulturen auch einen rechtlichen und politischen Pluralismus, der nur schlecht mit dem Konstrukt des Nationalstaates und der repräsentativen Demokratie zusammengeht.

Radikale Demokratie zapatistischer Prägung meint »Demokratie in ihrer grundsätzlichen Form, Demokratie in ihrer ursprünglichen Form […]. [Sie] schafft Macht nicht ab; sie sagt, dass die Menschen sie haben sollen, dass die Macht ihre Freiheit sein wird […]. Radikale Demokratie heißt, dass die Menschen im öffentlichen Raum versammelt sind, in dem weder der große paternalistische Leviathan noch die große maternalistische Gesellschaft über ihnen steht, sondern allein der leere Himmel – dass die Menschen die Macht des Leviathan wieder zu ihrer eigenen machen, frei sind zu reden, zu entscheiden, zu handeln« (Lummis 1996: 2529). Allein dadurch, dass es sie und ihre selbstorganisierte Verwaltung – entgegen aller Erwartungen – noch immer gibt, stellen die Zapatisten sowohl die dominanten Regierungsformen in Frage wie auch die Überzeugung, dass die Menschen sich nicht selbst regieren können und immer jemanden brauchen, der sie regiert. Während Mexiko im wahrsten Sinne des Wortes auseinanderfällt*, während es regelrecht von der Mafia in Wirtschaft und Politik zerlegt wird, versuchen die Zapatisten die Gesellschaft von unten zu reorganisieren. Sie legen großen Wert auf die Würde und Kreativität in der täglichen »Arbeit«, die sie in ein freies und lebendiges Tätigsein verwandeln wollen, frei von den Entfremdungen, die uns in den kapitalistischen Gesellschaften aufgezwungen werden. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es zwar unmöglich, solche Alternativen voll zu entfalten, aber es gibt Fortschritte. Ausgangspunkt ist die eigene Würde, das einzige, was ihnen geblieben ist.

* Das US-Außenministerium hat Mexiko während der Entstehungszeit dieses Buches gemeinsam mit dem Kongo und Pakistan als »gescheiterten Staat« eingestuft. Die Kategorie ist zwar unpräzise; Tatsache aber ist, dass die mexikanische Regierung große Teile des Landes nicht kontrollieren kann. Es ist zusehends schwierig, zwischen der Welt der staatlichen Institutionen und der Welt des organisierten Verbrechens, zwischen der Welt des Legalen und des Illegalen zu unterscheiden. Allein in den letzten vier Jahren (seit 2007) hat der »Krieg« gegen das organisierte Verbrechen in Mexiko direkt oder indirekt 50.000 Menschenleben gefordert. Zehntausend Personen sind spurlos verschwunden, und 250.000 wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Für die in der Öffentlichkeit sehr präsente »Bewegung für einen Frieden in Gerechtigkeit und Würde« (Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad) ist es prinzipiell falsch, ein Problem der öffentlichen Gesundheit mit militärischen Mitteln anzugehen, insbesondere angesichts der Korruption in den schwachen staatlichen Institutionen (einschließlich der Armee). Nach mehreren Jahrzehnten neoliberaler Politik haben acht Millionen junge Mexikaner weder einen Studien- noch einen Arbeitsplatz. Über die Hälfte aller Mexikanerinnen und Mexikaner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Gleichzeitig ist der reichste Mensch der Welt ein Mexikaner. Und während das Land in einem blutigen Bürgerkrieg versinkt, investieren er und viele andere Mexikaner, die auf der Fortune-Liste der reichsten Menschen der Erde stehen, ihre Gelder im Ausland.

Man kann die Zapatisten als eine Gemeinschaft von Lernenden sehen. Das Lernen steht im Zentrum ihres politischen Projekts. »Fragend schreiten wir voran« (»Preguntando caminamos«) heißt das Prinzip, das sie beständig anwenden – jenseits der Zwangsjacke irgendwelcher Ideologien oder Parteistrukturen. Es beinhaltet eine radikale Öffnung für den Austausch mit anderen sowie kontinuierliche Reflexion. Es beinhaltet die Entscheidung, das eigene Tun immer wieder neu zu überprüfen. All dies als Gruppe zu tun bedeutet, »in der Geschwindigkeit zu gehen, die der Langsamste vorgibt«, um aus ihrem Weg, ihren Ideen und ihren Praktiken ein wirklich gemeinsames Projekt zu machen. Als Ausdruck ihres Lernprozesses formulieren die Zapatisten eine eigene politische und erkenntnistheoretische Interpretation der Realität, was mit der Wiederaneignung der Sprache beginnt und die Befreiung von Kategorien verlangt, die ihnen in 500 Jahren des Kolonialismus aufgezwängt worden sind.

Die Zapatisten verändern auch die Art und Weise, Veränderungen zu erreichen. Der Veränderungsprozess selbst, nicht nur dessen Resultat, sollte sich nach dem richten, was erreicht werden soll. Die Trennung zwischen Mitteln und Zweck wird aufgehoben. Wenn die Maxime lautet, dass die Menschen selbst über ihr Schicksal bestimmen, sollten sie selbst die Protagonisten der Veränderung sein – und nicht irgendeine Elite, ein Vorreiter, eine Partei oder eine Struktur.

Der Kampf um Autonomie bezieht sich auch auf die Suche nach einer neuen Form der gesellschaftlichen Organisation. Die Zapatisten haben kein Vorbild erschaffen, und es wäre absurd, das, was sie gegen massive Widerstände zuwege brachten, an irgendeinem Ideal zu messen. Sie beweisen aber, dass eine postkapitalistische Gesellschaftsordnung machbar ist. Das macht sie zu einer Quelle der Inspiration für all die Unzufriedenen, Rebellen und Träumer auf der Welt, die nach Belegen dafür suchen, dass ihre Träume eines grundlegenden gesellschaftlichen Umbaus realisierbar sind.

Archipel der Konvivialität

Es ist an der Zeit, die Ära des Homo oeconomicus6 hinter uns zu lassen; sie hinterlässt uns einen ruinierten Planeten. Mit ihr geben wir auch eine Wirtschafts-form auf – sei sie nun kapitalistisch oder sozialistisch –, die auf der Prämisse der Knappheit beruht.7 Wir geben zudem das Konzept des Nationalstaates samt seines Gewaltmonopols auf, das zum Fluch der modernen Gesellschaft geworden ist. Und wir überwinden die formelle Demokratie, ohne in neue Formen des Autoritarismus zu verfallen. Die neue Gesellschaft, die von unten, von den Graswurzeln her, entsteht, zeichnet einen neuen politischen Horizont. André Gorz nennt ihn »Archipel der Konvivialität«: eine Gesellschaft, deren Grundbaustein nicht das Individuum ist, sondern das Commons.

Es gibt keinen Begriff, der die Vielfalt der gesellschaftlichen Kämpfe in Lateinamerika, in denen auf lokaler Ebene versucht wird, anders zu leben und zu regieren, voll erfassen könnte. So wie Commons ein Oberbegriff für sehr unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Existenz ist, lässt sich auch die immense Reichhaltigkeit gesellschaftlicher Organisationsformen, die dort existieren oder im Entstehen begriffen sind, nicht auf eine formale Kategorie reduzieren.8 Sie alle, ob auf präkolumbianischen Traditionen basierend oder moderne Neuschöpfungen, liegen jenseits der Schwelle des Privaten und können gleichwohl nicht als öffentliche Räume oder gemeinschaftliche Spielwiesen definiert werden. Es geht auch nicht um spezifische Formen des Grundeigentums. Vielmehr ist die Art und Weise, wie Dinge getan werden, wie über sie gesprochen wird und wie sie gelebt werden, Ausdruck von kulturellen Traditionen und Innovation zugleich. Ihre genauen Grenzen (ihre Konturen und Radien) wie auch ihre internen Strukturen (ihre Zwangsjacken) sind noch unzureichend erforscht, doch sie gewinnen zusehends an Bedeutung und reichen über den herkömmlichen Entwicklungsbegriff hinaus.
Die Revolution, die ich hier zu illustrieren versuche, wurde von Menschen in Gang gesetzt, die ihre Lebensweise gegen Kolonialisten und Modernisierer verteidigen. Jetzt wird diese Revolution neu belebt und auf die gegenwärtigen Umstände angepasst. In diesem Prozess der Einhegung derer, die einhegen, verbünden sie sich mit denjenigen, die alternative Lebensweisen entwickeln und das Wasser, die Luft, die Wälder und die Natur zu schützen versuchen – wie Ivan Illich es vor 30 Jahren vorhersagte (Illich 1982). Gemeinsamen erschaffen sie eine Welt, in die viele Welten passen.

Literatur

  • Esteva, Gustavo (1998): »The Revolution of the New Commons«, in: Cook, Curtis/Lindau, Juan D.: Aboriginal Rights and Self-Government, Montreal.
  • Esteva, Gustavo (2005): Celebration of Zapatismo, Oaxaca.
  • Esteva, Gustavo (2010): »From the Bottom-up: New Institutional Arrangements in Latin America«, in: Development, 53/1, März 2010, S. 64-69.
  • Illich, Ivan (1981): Shadow Work, Boston und London. Illich, Ivan (1982): Gender, New York.
  • Lummis, Douglas (1996): Radical Democracy, Ithaca und London.

  1. Hier im Sinne von: eine Person, die sich um den Schutz des Hauses, des Habes, der Familie und der Gemeinschaft kümmert (Anm. der Hg.).
  2. In Ivan Illichs Neudefiniton bezeichnet der Begriff »vernakulär« »Aktivitäten von Menschen, wenn sie nicht durch den Kaufgedanken motiviert sind, also autonome, nicht mit dem Markt verbundene Handlungen, um die alltäglichen Bedürfnisse zu befriedigen – Handlungen, die aufgrund ihrer Natur der bürokratischen Kontrolle entgehen […
  3. Siehe dazu unter anderem die Beiträge von Dirk Löhr, César Padilla und Liz Alden Wily in diesem Buch (Anm. der Hg.).
  4. Vgl. das Gespräch zwischen Gustavo Soto Santiesteban und Silke Helfrich über das
    Konzept des Buen Vivir in diesem Buch (Anm. der Hg.).
  5. Vgl. auch die Beiträge von Gerhard Dilger (zu Brasilien) und von Vinod Raina (insbesondere zu Indien) in diesem Buch (Anm. der Hg.).
  6. Zum Werden des Homo oeconomicus siehe den Beitrag von Friederike Habermann in diesem Buch (Anm. der Hg.).
  7. Im Kontext der Diskussionen um die Commons gibt es derzeit eine rege Auseinandersetzung über die sich widerstreitenden Konzepte von Fülle und Knappheit. Siehe dazu das Gespräch zwischen Davey, Helfrich, Höschele und Verzola in diesem Buch (Anm. der Hg.).
  8. Der spanische »Ejido« (das Land am Ausgang der Dörfer, das im 16. Jahrhundert von den Dorfbewohnern gemeinsam genutzt wurde), ist weder identisch mit der englischen Allmende noch mit den präkolumbianischen Gemeinschaftsordnungen, dem modernen mexikanischen Ejido-System oder den sich herausbildenden neuen Commons.