Silke Helfrich und David Bollier
Die alte Welt treibt durch stürmische Zeiten. Sie wirkt wie ein aus dem Ruder gelaufener Tanker in schwerer See. Eine neue Welt ist nicht in Sicht, aber Leuchtfeuer am Horizont weisen in Richtungen, die wir jederzeit einschlagen können, um dem Sturm zu entkommen. Überall auf der Welt suchen Menschen nach Alternativen zu der überkommenen Ordnung, die sie umgibt: zentralisierte Hierarchien einerseits und entfesselte Märkte andererseits. Diesen Märkten sind die Staaten, am Steuer eines umweltzerstörenden Wachstums stehend, bislang verpflichtet.
Die aktuelle Beziehung zwischen Markt und Staat lässt sich als symbiotisch beschreiben. Markt und Staat sind zu einem Duopol verschmolzen. Sie verfolgen eine gemeinsame Vision von technologischem Fortschritt und Wettbewerb, (zumeist) eingebettet in ein nominell demokratisches Gemeinwesen, dessen Kern individuelle Rechte und Freiheiten sind. In diesem Duopol sind die Rollen beider Hauptakteure komplementär, aber das Bemühen ist gleich: de facto unerreichbares Endloswachstum und Konsumentenzufriedenheit. Der Markt bestimmt dafür den Preis. Er verwaltet Personen, Kapital und Ressourcen, um materiellen Wohlstand zu generieren. Der Staat repräsentiert den Willen des Volkes, während er das Funktionieren des »freien Marktes« so einfach wie möglich macht. Nach diesem Ideal des »demokratischen Kapitalismus« maximiert sich das Wohlbefinden der Konsumenten, die zugleich immer mehr politische und wirtschaftliche Freiheit genießen. Das zumindest ist die große Erzählung.
Historisch gesehen waren Markt und Staat durchaus füreinander fruchtbar. Die Märkte haben die staatlich bereitgestellten Infrastrukturen genutzt und davon profitiert, dass Investitionen und Marktaktivitäten staatlich durchgesetzten Regeln folgen. Ihnen kamen und kommen der kostenlose oder vergünstigte Zugang zu Wäldern, Mineralien, zur Atmosphäre und dem elektromagnetischen Spektrum, zu Forschungsmitteln und anderen Leistungen der Gesellschaft zu Gute. Der Staat wiederum hängt in seiner heutigen Verfasstheit ganz vom Wirtschaftswachstum ab, das auf dem Markt produziert wird. Es ist (potenziell) Quelle für Steuereinnahmen und Arbeitsplätze. Daher definieren politische Verantwortungsträger das Wirtschaftswachstum in der Regel als Königsweg zur Verteilung von materiellem Reichtum und sozialen Chancen.
Demokratischer Kapitalismus ist eine Illusion
Die multiplen Krisen der Gegenwart, zuletzt die 2007/2008 beginnende Finanzkrise, haben gezeigt, dass diese Weisheiten des demokratischen Kapitalismus bloße Lehrbuchweisheiten sind. Die politischen und persönlichen Verbindungen zwischen den größten Unternehmen und staatlichen Institutionen sind enorm. Der freie Markt reguliert sich so wenig von »unsichtbarer Hand«, wie er ausschließlich privat ist. Vielmehr ist er weitgehend abhängig von staatlichen Subventionen, von Maßnahmen zur Risikobegrenzung und rechtlichen Privilegien, mitunter auch von der militärischen Sicherung der Handelswege und Energiequellen. Dieser Markt vernachlässigt viel; zuvorderst die Interessen von Menschen mit geringer Kaufkraft und die Natur, aber ebenso die Präferenzen kleiner Investoren. Das Markt-Staat-Duopol erinnert an ein Insider-Oligopol. Transparenz ist minimal, Regulierung wird korrumpiert, Rechenschaft bleibt politisch manipuliert, und die Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger beschränkt sich bisweilen auf die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub. In einigen Ländern macht sich der Staat zum Juniorpartner von Clans, dominanten Ethnien oder mafiösen Strukturen. In anderen macht er sich zum Juniorpartner eines marktfundamentalistischen Projekts. Fortschreitende Privatisierung, Deregulierung, Budgetkürzungen, expansive private Eigentumsrechte und ungehinderter Investitionszugang sind die oft begründungsfreien Schlagworte dieses Prozesses. Es sind Schlagworte im Wortsinne. Sie schlagen ein um die andere Bresche in die natürlichen Lebensgrundlagen und sozialen Infrastrukturen. Der Staat nimmt mitunter Eingriffe vor, die Marktexzessen vorbeugen sollen. Doch diese haben meist nur den Effekt von Neuroleptika. Sie wirken dämpfend und beruhigend für Nerven und Seele und führen zu einer gewissen Gelassenheit der Regierten. Das eigentliche Problem lassen sie unangetastet. Mehr noch: Sie legitimieren nicht selten marktfundamentalistische Prinzipien und Verfahrensregeln. Am Ende beherrschen die Marktkräfte weiter die wichtigen politischen Themen.
Mit seinen mürben, bürokratischen Strukturen mutet der Staat im Zeitalter der elektronischen Vernetzung ohnehin wie ein chronischer Zuspätkommer an. Dazu kommt, dass politische Ziele kurzfristig erreicht werden müssen. Die Regierungen von Nationalstaaten erweisen sich ähnlich wie viele parlamentarischen Vertretungen oft als unfähig, in langen Zeiträumen zu denken. Die Illusion, der Staat würde und könne eingreifen, um die Interessen der Menschen zu vertreten, zerbricht.
In dem Maße, wie sich das Markt-Staat-Duopol unserer Gesellschaften bemächtigte, korrumpierte sich auch unsere Sprache. Der konventionelle politische Diskurs vermag weder unsere Probleme adäquat zu benennen, noch Alternativen zu formulieren. Er taumelt von Zirkelschluss zu Zirkelschluss. Die Fallstricke der dominierenden politischen Sprache sind eng gespannt. Dualismen wie »öffentlich« versus »privat« und »Staat« versus »Markt« oder »Natur« versus »Kultur« gelten als selbstverständlich. Als Erben von Descartes sind wir es gewohnt »subjektiv« von »objektiv« zu unterscheiden und »Individuum« von »Kollektiv«. Wir fassen sie als Gegensätze auf und verschleiern so das Relationale, die Tatsache, dass das Eine mit dem Anderen untrennbar verbunden ist. Diese Dualismen sind in unser Denken eingegraben. Das wird vor allem spürbar, wenn wir uns das Spektrum an Lösungen vergegenwärtigen, das gemeinhin für plausibel gehalten wird. »Entweder – oder«, heißt es dann. Ganz oder gar nicht. So wird unser Denken mit einem schwer zu durchbohrenden Brett vernagelt und marktfundamentalistische Zweckbestimmungen und Machtverhältnisse abgesegnet.
Generative Commons
Die Debatte über Commons erlaubt es, uns »außerhalb« der dominanten Wirtschaftsweise und ihrer Dichotomien zu stellen. Das gelingt nicht nur mit einer neuen Sprache, sondern vor allem mit einer Praxis, die einen umfassenderen Begriff von »der Wirtschaft« (besser: von »dem Haushalten«) spiegelt. Commons fördern Sozialbeziehungen und Gemeinschaftlichkeit. Sie sind jene vielfältigen Formen gemeinsamen Sorgetragens, die für Marktökonomen, die sich am Homo oeconomicus orientieren, weithin unverständlich bleiben. Sie ermöglichen uns, das Wertvolle des Unveräußerlichen in den Blick zu nehmen. Sie sind ein Schutz gegen die Verbetriebswirtschaftlichung von allem und jedem. Commons zeigen: Die Beziehungen zur Natur müssen nicht an Verwertung und Extraktion orientiert sein – sie können den Prinzipien der Nachhaltigkeit und Fairness folgen.
Commons sind an vielen Orten der Welt gelebte Realität. Immer wieder wurden sie als Niemandsland, als „res nullius“, angesehen: als Orte ohne Eigentümer und ohne Wert. Doch ungeachtet des häufigen Kurzschlusses, die Commons als „tragisch“ abzutun, sind sie unheimlich produktiv. Sie füllen das Reservoir, aus dem wir Leben und Nutzen schöpfen. Das „Problem“ ist, dass sich dieser Nutzen nicht einfach messen lässt. Es gibt keine skalare Größe, die ihn so vermisst wie der Preis es mit handelbaren Werten tut. Den schöpferischen Prozessen der Commons auf die Spur zu kommen, ist komplexer und langfristiger als für die Mandarine des Marktes denkbar. Commons bringen ihre Gaben in der Dynamik des Lebens selbst zum Ausdruck. Wir können sie nicht fixieren. Und schon gar nicht zählen wie Aktien und Inventar. Im reichtumschaffenden Prozess des Commoning, geht es nicht darum, Dinge zu produzieren oder Rendite zu erzielen. Es geht um den schöpferischen Prozess selbst und um die gerechte Verteilung des Reichtums, der in den Commons reproduziert wird.
Eine commons-sensitive Architektur von Recht und Politik
Commoners sind sehr verschieden, und sie wissen nicht unbedingt im Voraus, wie ein gemeinsames Ziel vereinbart und verfolgt werden kann. Eine der wenigen verallgemeinerbaren Aussagen scheint zu sein, dass wir überall (Frei-)Räume für den konstruktiven Dialog und das Ausprobieren von selbstbestimmten Regeln und Vereinbarungen brauchen. Vereinbarungen, die dazu führen, dass Ressourcen nicht übernutzt und nicht unternutzt werden, und dass Teilhabe nicht prinzipiell an der Verfügbarkeit von Geld hängt. Die Belastbarkeit der Commons hängt auch davon ab, dass Institutionen und Gesetze diese Vereinbarungen nicht unterlaufen: Wir brauchen demnach Gesetze, Institutionen und eine Politik, die Commoning leichter machen. Wir brauchen einen Staat, der Allmende-Prinzipien aktiv unterstützt und deren Torpedierung sanktioniert, so wie er derzeit das Marktprinzip unterstützt und dessen Übertretung sanktioniert. Commons-Prinzipien können im Mittelpunkt politischer und rechtlicher Innovation stehen, wenn es gelingt, anders zu denken.
Seitdem die Dysfunktionalitäten des Staates in der Unfähigkeit deutlich wurden, die Finanzkrise strukturell zu lösen oder der ökologischen Zerstörung wirksam zu begegnen, hat der Staat ein vermehrtes Interesse daran, dass die Menschen Aufgaben übernehmen, die er selbst nicht lösen kann. Doch damit dieser Prozess tatsächlich unseren Lebensinteressen dient und nicht in unverantwortlicher Staatsverschlankung und Vereinnahmung endet, muss der Staat den Menschen zunächst tatsächlich ermöglichen, dass sie Mitbesitzer und -verwalter der Gemeinressourcen sind. In der jüngeren Geschichte hingegen wurden Commons von der Politik in erschütternder Regelmäßigkeit ignoriert. Projekte oder Netzwerke waren gezwungen, ihre eigenen Lösungen und Regeln zu entwickeln, um kollektive Rechte zu verteidigen. Prominente Beispiele hierfür sind die General Public License für freie Software (und andere kulturelle Inhalte) sowie Rechtsformen zur gemeinsamen Nutzung von Wohnraum und Land (Land Trusts, Mietshäusersyndikate). Das sind Beispiele, in denen Commons, obwohl formal in Privateigentum befindlich, von den Nutzerinnen und Nutzern in Besitz genommen werden.
Auch die Marktstrukturen gilt es neu zu erfinden, so dass die alten, oft monopolisierten kapitalistischen Unternehmensstrukturen nicht die lokalen Alternativen, die solidarischen Ökonomien oder sozial verantwortliche Wirtschaftsformen erdrücken. Unternehmen sind durchaus in der Lage, ihre Interessen der Gewinnmaximierung den langfristigen Interessen ihrer Gemeinden und der Menschen unterzuordnen. Community Supported Agriculture (CSA), die Slow-Food-Bewegung und Fair-Trade-Unternehmen sind nur einige Beispiele.
Wo immer Keimformen neuer Commons auftauchen, bilden sie ein Spannungsverhältnis mit dem Bestehenden, denn sie müssen oft innerhalb des existierenden Systems von Recht und Politik bestehen. Die Gefahr der Kooptierung, gegenüber der jedes Projekt sein transformatives Potential behaupten muss, ist omnipräsent. Zudem ist klar, dass es unter Commoners immer strategische Auseinandersetzungen über die „Reinheit“ eines Commons geben wird. Da sind einerseits jene, die möglichst geringe oder keine Schnittflächen mit den Märkten bevorzugen, und andererseits jene, die meinen, ihre Communities gedeihen gerade in der Wechselwirkung mit den Märkten. Der permanente Abgleich zwischen beiden ist wichtig und kann sehr produktiv sein. Doch auch tiefere philosophische Spannungen innerhalb der Commons-Bewegung sind nicht ausgeschlossen. Diese Spannung sollte nie vergehen. Sie wirft wichtige Themen auf, die kontrovers diskutiert werden, doch die alles entscheidende Frage für Commoners ist: Wofür produzieren wir eigentlich?
Die Frage ist einfach zu beantworten: Für das Leben. Bei Commons – verstanden als Lebensnetz – geht es primär um die Befriedigung von Bedürfnissen und die Erweiterung einer commons-basierten Kultur. In anderen Worten: Es geht darum, dass Commons Commons produzieren. In der Geschichte menschlicher Zivilisation gab es immer eine jeweils dominante Organisationsform. In Stammesgesellschaften war es die Schenk-Ökonomie; in vorkapitalistischen Gesellschaften wie dem Feudalismus die Hierarchie. Chancen wurden auf der Grundlage des sozialen Status verteilt. Im Kapitalismus ist der Markt das primäre System, das sozialen Status, Reichtum und Entwicklungschancen zuteilt. Jetzt, wo die Grenzen des marktfundamentalistischen Kapitalismus offenbar geworden sind, stellt sich die Frage, ob sich die Sphäre der Commons so ausweiten kann, dass sie die dominante gesellschaftliche Form wird.
Wir leben in einer spannenden Zeit. Sie gehört zu den seltenen historischen Momenten, in denen alte, verkrustete Denkkategorien (auf-)brechen und Neuem Platz bieten. Doch jeder Übergang zu einem neuen Paradigma setzt voraus, dass genügend Menschen aktiv Teil der Geschichte werden und sich diese neuen Kategorien – in ihrer und durch ihre Lebenspraxis – aneignen. Hoffnung für unsere Zukunft liegt allein in den Menschen und darin, dass wir auf Kooperation geeicht sind. Dies prädestiniert uns, eine vielfältige Kultur des Commoning zu entwickeln. Tatsächlich erlebt die Sprache der Commons auch deshalb einen Aufschwung, weil sie in uns Resonanz erzeugt. Sie berührt und spornt uns an, die beengende politische Kultur und Denkweise abzuschütteln, die das Markt-Staat-Duopol uns aufzwingt.