Vinod Raina – Was ist rückständig: Subsistenzwirtschaft oder moderne Entwicklung? Der Widerstand gegen Staudämme

Vinod Raina

Öffentliche Bekundungen von Bewegungen, die sich für wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Gerechtigkeit engagieren, sind häufig nur der oberflächliche Ausdruck einer sehr viel komplexeren Agenda. Könnte man sich durch diese Bekundungen wie durch Hypertextlinks klicken, so würden sich zahlreiche Unterebenen öffnen und die darunter verborgen liegenden Werte, Traditionen und Philosophien offenbaren – kurz, die Identitäten der Menschen, die diese Forderungen erheben. Es lohnt, aus dieser Perspektive einen Blick auf die sozialen Bewegungen in Indien zu werfen, von den linksgerichteten bewaffneten Aufständen maoistischer Prägung bis hin zu den Kampagnen der Adivasi1-, der Bauern-, Arbeiter- und Dalit2-Bewegungen. Allesamt sind sie beeinflusst von der von Mahatma Gandhi inspirierten und größtenteils gewaltlosen nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung, in deren Verlauf die Inder 1947 die britischen Kolonialherren vertrieben. Viele dieser sozialen Bewegungen sind auch heute noch aktiv. Sie wurden ergänzt durch die in postkolonialen Zeiten entstandenen Frauen- und Umweltbewegungen.

Die Vitalität der sozialen Bewegungen ist vielleicht der beste Beweis dafür, wie tief der demokratische Geist in Indien über das bloße Ritual der Wahlen hinaus verwurzelt ist. Und »nur selten haben wir«, wie Priya Kurian einmal anmerkte, »diesen demokratischen Prozess so augenfällig und so effektiv wirken sehen wie in der wachsenden Mobilisierung der Menschen gegen den Bau großer Staudämme« (Kurian 1988). In den vergangenen zehn Jahren haben die indischen AntiStaudamm-Bewegungen, insbesondere jene gegen die Narmada-Dämme, sowohl bei Befürwortern wie Gegnern erhebliche nationale und internationale Beachtung gefunden. Die Gegner sehen in diesem Widerstand eine Neuauflage des maschinenstürmenden Luddismus, eine von englischen Textilarbeitern Anfang des 19. Jahrhunderts ausgehende soziale Bewegung, die im Kampf um die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze die neu eingeführten mechanischen Webstühle zerstörten. Der Dammbau kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Nahezu 8000 Jahre alte Kanäle, die in den Zagros-Bergen im östlichen Mesopotamien entdeckt wurden, legen die Vermutung nahe, dass die dortigen Bauern die ersten Dammbauer in der Menschheitsgeschichte waren. Man nimmt an, dass die primitiven Dämme aus Gesträuch und Lehm als Wehre dienten, um Wasser in die Kanäle zu leiten. In Jordanien wurden knapp 3000 Jahre alte Dämme gefunden, Teile eines groß angelegten Wasserversorgungssystems. Hinweise auf ähnliche Dämme aus derselben Zeit finden sich auch im Mittelmeerraum, in anderen Gebieten des heutigen Nahen Ostens, in China und in Mittelamerika. Später erhoben die Römer den Dammbau zu einer hohen Kunst.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein regelrechter Dammbau-Rausch ausgebrochen, in dessen Verlauf laut dem von der Internationalen Kommission für große Talsperren (International Commission on Large Dams, kurz ICOLD) geführten Verzeichnis weltweit über 40.000 große Staudämme an Flüssen errichtet worden sind – davon allein 35.000 seit 1950. Als großer Staudamm gilt gemeinhin eine Talsperre ab einer Staumauerhöhe von 15 Metern. In China, wo es noch 1949 gerade einmal acht Großstaudämme gab, standen 40 Jahre später rund 19.000! Mit rund 5500 großen Staudämmen sind die Vereinigten Staaten das Land mit den zweitmeisten Großstaudämmen, gefolgt von der ehemaligen Sowjetunion (3000), Japan (2228) und Indien (1137).3 Mega-Staudämme werden von der ICOLD entweder nach ihrer Höhe (mindestens 150 Meter) als solche definiert oder nach ihrem Volumen (mindestens 15 Millionen Kubikmeter), ihrer Speicherkapazität (mindestens 25 Kubikkilometer) oder ihrer Stromerzeugungskapazität (mindestens 1000 Megawatt, eine Strommenge, mit der eine europäische Stadt mit etwa einer Million Einwohnern ein Jahr lang versorgt werden könnte). Im Jahr 1950 gab es weltweit zehn Staudämme dieser Kategorie. Im Jahr 1995 waren es schon 305. Im Rahmen der »verbesserten Flussplanung«, eines an das Tennessee-Valley-Projekt4 in den USA angelehnten Ansatzes, werden Staudämme heute so geplant und platziert, dass das gesamte Flussbecken optimal ausgenutzt werden kann. »Viele große Flüsse sind heute kaum mehr als Wassertreppen, die aus lauter Rückhaltebecken bestehen«, klagte schon vor über zehn Jahren ein Kritiker der Entwicklung (McCully 1996).
Wachsender Widerstand gegen Staudämme

Viele der frühen Protestbewegungen gegen Staudämme blieben erfolglos, so etwa die harte Kampagne gegen den Bau der 191 Meter hohen New-Melones-Talsperre am Stanislaus River in den Vorbergen der kalifornischen Sierra Nevada in den 1970er-Jahren. Etwas mehr Erfolg hatten die Cree-Indianer in Kanada mit ihrem Kampf gegen das gigantische Baie-James-Wasserkraftprojekt in Kanada. Sie konnten 1994 erreichen, dass die letzten beiden Ausbaustufen aufgegeben wurden. Im Jahr 2002 gab es ein Abkommen mit den Cree, das erlaubte, das Projekt in »zurechtgestutzter« Form zu Ende zu führen. In Russland wurde der Bau der Katun-Talsperre im Altai-Gebirge ausgesetzt, während der Widerstand gegen die geplanten Staudammprojekte am spektakulären Rio Biobio in Chile noch weitergehen muss. Der seit Mitte der 1980er-Jahre geführte Kampf gegen die Narmada-Staudämme in Indien ist gewissermaßen zu einem globalen Symbol der ökologischen, politischen und kulturellen Missstände geworden. Und das Narmada-Projekt ist nur ein Beispiel von vielen. In nahezu allen Fällen aber reicht der Widerstand der Menschen allein nicht aus, die Talsperren zu verhindern, obwohl jene, die Widerstand leisten, nicht nur Umweltschützer sind, sondern auch Menschen, die direkt von Vertreibung bedroht sind.
Umso erstaunlicher ist, dass die erste erfolgreiche Kampagne gegen ein neues Staudammprojekt in Indien, gemeint ist der Silent-Valley-Staudamm im Bundesstaat Kerala, vom Umweltschutz motiviert war. Im Gegensatz zu den meisten anderen indischen Talsperren hätte der Bau des Damms nur wenige Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, dafür aber hätte er eines der größten Regenwaldgebiete des Landes zerstört. Die Sorge um den Regenwald und die dort lebenden heimischen Arten, wie die in ihrem Bestand stark gefährdeten Bartaffen, bewog die damalige Premierministerin Indira Gandhi dazu, das Projekt zu stoppen. Der Erfolg dieser Kampagne war mit dafür verantwortlich, dass eine Reihe weiterer Staudammprojekte bei Bhopalpatnam, Inchampalli und Bodhgat an den Flüssen Godavari und Indravati eingestellt wurde. Zusammengenommen hätten sie zur Vertreibung von 100.000 Adivasi und zur Überflutung mehrerer Tausend Hektar Wald geführt.

Nach der Unabhängigkeit 1947 war der Bau von Staudämmen zu einem wichtigen Symbol der Modernisierung, des wissenschaftlichen Fortschritts und des Nationalstolzes geworden. Der erste indische Premierminister, Jawaharlal Nehru, bezeichnete sie als »die Tempel des modernen Indien«. Im Jahr 1954, bei Inbetriebnahme der 226 Meter hohen Bhakra-Talsperre, jubelte Nehru: »Welcher Ort könnte großartiger sein als dieser hier, Bhakra-Nangal, wo viele Tausend Männer gearbeitet, Blut und Schweiß verströmt und manche auch ihr Leben gelassen haben? Wo könnten wir einen heiligeren Ort finden als diesen, was könnten wir mehr verehren?«
Die Auswirkungen des Talsperrenbaus nahmen jedoch dramatisch zu, als mit der Gründung der Damodar Valley Corporation der Talsperrenbau zum Bestandteil einer umfassenden Flussbecken-Planung gemacht wurde. Gestaltet nach dem Vorbild der Tennessee Valley Authority in den USA, wurden zahlreiche Talsperren entlang des Damodar-Flusses sowie weitere Dammbauten an mehreren anderen Flüssen im ostindischen Bundesstaat Bengalen geplant. Auch wenn sich gegen dieses Vorgehen kein sichtbarer Widerstand regte, umriss der ehemalige Bauingenieur Kapil Bhattacharaya in einigen brillanten, auf Bengalisch verfassten Aufsätzen die voraussichtlichen Konsequenzen mit erstaunlicher Präzision (Raina 1998). So wies er darauf hin, dass der Hafen von Kalkutta nur deshalb schiffbar geblieben war, weil die Flüsse den Schlick mitnahmen, der während der Überschwemmungen in den Hafen gespült wurde; diese Flüsse zur Hochwasserkontrolle aufzustauen würde, so sagte er voraus, den Hafen unpassierbar machen – was später genau so kam. Er sagte auch voraus, dass die staatlichen Ingenieure gezwungen sein würden, Wasser von einem in das damalige Ostpakistan (Bangladesch) fließenden Fluss in den Hafen umzuleiten – was internationale Spannungen nach sich ziehen würde. Auch das traf ein. Und er warnte vor einem Rückfluss der städtischen Abwässer aus dem Hafen von Kalkutta in die Flüsse und sagte sogar voraus, dass die Leute die Stadtverwaltung dafür verantwortlich machen würden und nicht die Staudämme, die weit entfernt und jenseits des Einflussbereichs der städtischen Behörden lagen. Die Damodar-Staudämme werden heute von vielen hunderttausend Menschen, die unter ihren Folgen leiden, als Fluch gesehen – dennoch scheint niemand zu begreifen, dass mit einer gründlichen Analyse der sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen ein Großteil dieses Leids hätte vermieden werden können.

Gandhis Vision gegen Nehrus Modernisierung

Seit der Gründung des indischen Staates gab es zwei konkurrierende Visionen des Wiederaufbaus: Gandhis Projekt der Wiederbelebung dörflicher Ökonomien als Grundlage der Entwicklung und Nehrus Plan, Wohlstand durch rapide Industrialisierung zu schaffen. Gandhi, der seine Vorstellungen schon 1908/1909 in seinem Buch Hind Swaraj [Indiens Freiheit] zusammengefasst hatte, schrieb am 5. Oktober 1945, am Vorabend der indischen Unabhängigkeit, in einem Brief an Nehru: »Ich bin davon überzeugt, dass, wenn Indien die Freiheit erlangt […], es früher oder später erkannt werden muss, dass die Menschen in Dörfern leben müssen, nicht in Städten – in Hütten und nicht in Palästen. Millionen Menschen werden in den Städten und Palästen nie im Frieden miteinander leben können […]. Der Bewohner dieses imaginären Dorfes wird sein Leben nicht wie ein Tier in einem verwahrlosten dunklen Raum führen. Männer und Frauen werden frei sein und bereit, sich der ganzen Welt zu stellen […]. Niemand wird in Trägheit oder in Luxus leben.« »Gott bewahre Indien vor einer Industrialisierung in der Art des Westens«, mahnte Gandhi. »Sollte ein ganzes Land von 300 Millionen [und heute über einer Milliarde – V.R.] eine vergleichbare wirtschaftliche Ausbeutung betreiben, es würde die Erde wie ein Heuschreckenschwarm leer fegen.« Sein Unbehagen gegenüber der Zentralisierung hatte Gandhi schon in der Ausgabe vom 29. September 1940 des Harijan zum Ausdruck gebracht, als er erklärte: »Nehru will die Industrialisierung, weil er überzeugt ist, dass sie in ihrer sozialistischen Form frei von den Übeln des Kapitalismus sei. […] Ich träume von Elektrizität, Schiffswerften, Stahlwerken, Maschinenbau und dergleichen, Seite an Seite mit dem dörflichen Handwerk. Aber […] ich teile nicht die sozialistische Überzeugung, dass die Zentralisierung der Produktion der lebensnotwendigen Güter zur allgemeinen Wohlfahrt beitragen wird.«
Die Befreiung, die Gandhi versprach, bezog sich nicht nur auf die ökonomische Unabhängigkeit; sie war vor allem eine Zusicherung, dass die Kultur der indischen Landbevölkerung die herrschende sein würde. Jawaharlal Nehru wischte in einem Brief vom 9.Oktober 1945 Gandhis Vision brüsk beiseite: »Ein Dorf ist im Normalfall intellektuell und kulturell rückständig, und aus einer rückständigen Umgebung heraus kann kein Fortschritt erreicht werden.« Nehrus eigene Ambivalenz in dieser Frage sollte erst Jahre später offenkundig werden, als er selbst auf die mit Großprojekten einhergehenden Übel hinwies.

Nehrus Entwicklungsagenda bestimmt seit über 50 Jahren die Politik in Indien. In diesem halben Jahrhundert wurden große Fortschritte bei der Industrialisierung erreicht und die grundlegende technische und Dienstleistungsinfrastruktur für eine autarke Entwicklung aufgebaut. Die Armut aber bleibt bestehen.
Wenn es darum geht, Projekte wie die Narmada-Talsperren zu bewerten, stellen sich viele wohlmeinende Experten und Intellektuelle ebenso wie Angehörige der Mittelschicht vor allem Fragen wie »Wo soll denn der Strom sonst herkommen?« oder »Wie sollen wir ohne künstliche Bewässerung auskommen – was ist mit der Nahrungsmittelversorgung?« Diese Sorgen – die wir von ähnlich klingenden, aber aggressiveren und selbstsüchtigeren Argumenten unterscheiden müssen, die Politiker, Bauherren und andere Interessengruppen vorbringen – müssen ernst genommen werden. Sie stehen nicht nur in Indien, sondern überall im Zentrum der Entwicklungsdebatte. Gleichzeitig ist es notwendig, die Widerstandsbewegung gegen die Narmada-Talsperren in den sozioökonomischen, politischen und kulturellen Kontext in Indien einzubetten.

Die Staudämme und die Armen

Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass jede Form der Entwicklung schlussendlich den »einfachen Leuten« dient. Wer aber sind diese Leute in Indien? Konsens würde wohl mit der Antwort »die Armen« hergestellt, wobei es meiner Meinung nach in Indien noch immer an einer angemessenen Definition »der Armen« mangelt.
Die Regierung definiert all diejenigen als arm, denen pro Tag weniger als 2200 Kalorien an Nahrung zur Verfügung stehen. Ob ein so komplexer Begriff wie »Armut« durch eine scharf gezogene Linie charakterisiert und anhand eines einzigen Parameters definiert werden kann, ist allerdings fraglich.
Die indischen Ureinwohner, die Adivasi, stehen auf der untersten Stufe der ökonomischen Leiter. Die 72 Millionen Adivasi (mehr als die Hälfte der Bevölkerung Japans) stellen rund sieben Prozent der knapp 1,2 Milliarden Inder. Auf derselben Stufe stehen die grundbesitzlosen Arbeiter, die an den Rand gedrängten Kleinbauern und die Subsistenzbauern mit bis zu einem halben Hektar Land. Darüber hinaus gibt es viele Menschen, die traditionellen Handwerksberufen nachgehen, darunter Töpfer, Eisenschmelzer, Bambus- und Korbflechter, kleine Handweber, Abhäuter und Gerber. Rechnet man noch die Slumbewohner der Städte hinzu, gibt es in Indien rund 600 Millionen Arme. Rund zwei Drittel der Bevölkerung schafft es irgendwie, zu überleben und sich zu ernähren, ein weiteres Drittel, bestehend aus der Unter-, der Mittel- und der Oberschicht, lebt in unterschiedlichem Komfort.

Mit Ausnahme der städtischen Slumbewohner sind die Armen in Indien für ihren Lebensunterhalt auf die eine oder andere gemeinschaftliche Ressource angewiesen: Land für den Subsistenzfeldbau, Bambus, Gräser, Tierhäute und Mineralien für handwerkliche Berufe und unterschiedliche Biomassequellen als Brennstoff sowie für den häuslichen Bedarf. Das beste Beispiel sind die Adivasi, die zumeist in den Wäldern oder in ihrer unmittelbaren Nähe leben und deren Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft auf das Engste mit diesen Wäldern verknüpft ist. Die Materialien, mit denen sie ihre Hütten bauen, und den Großteil ihrer Nahrung, ihres Feuerholzes und ihres Wassers beziehen sie aus den Gemeinressourcen ihrer unmittelbaren Lebensumwelt. Ihr wirtschaftlicher Austausch mit der Außenwelt findet hauptsächlich im Rahmen der Haats statt, der fahrenden Wochenmärkte, auf denen sie das Notwendigste wie Salz, Lampenkerosin und Textilien erstehen. Dinge wie Speiseöl, Getreide und Hülsenfrüchte oder Zucker, Gewürze und Seife sind Luxusartikel, die sie sich nur hin und wieder einmal leisten können.

Vor 50 Jahren, nach über eineinhalb Jahrhunderten Kolonialherrschaft, waren die Erwartungen der Menschen in Indien riesig. Der Staat entschied sich für eine gemischte private und öffentliche Wirtschaft und nahm ein gewaltiges Industrialisierungs- und Infrastrukturprogramm in Angriff. Man hoffte, dass davon auch die einfachen Leute profitieren würden. Den rund 40 Millionen Menschen, die durch die Staudämme, den expandierenden Bergbau, die voranschreitende Urbanisierung, den Ausbau der Industrie und andere Erschließungsprojekte aus ihrer Heimat vertrieben wurden, schenkte man keinerlei Beachtung. Man ging schlicht davon aus, dass die nationale Entwicklung nicht ohne gewisse Opfer vorangetrieben werden konnte. Welchen Nutzen diese Projekte auch immer hatten – mehr Strom, mehr Bewässerungsfeldbau oder mehr Industrieproduktion –, profitiert hat im Allgemeinen das wohlhabendere Drittel der Bevölkerung. Bei denen, die am meisten darauf angewiesen waren, ist kaum etwas angekommen. In vielen Fällen hat die forcierte Industrialisierung den »einfachen Menschen« sogar geschadet. Da viele von ihnen für ihren Lebensunterhalt zwingend auf die Nutzung und den freien Zugang zu gemeinsamen Naturressourcen angewiesen sind, bedrohen neue Gesetze, mit denen Wälder, forstwirtschaftliche Erzeugnisse, Land, Wasser und Bodenschätze an den Staat übertragen werden, ihre Subsistenzwirtschaft und ihre Kultur. Entgegen den Behauptungen der Regierung fällen die Adivasi nur selten Bäume, sondern sie schlagen hauptsächlich Äste ab oder sammeln totes Holz. Für den Holzeinschlag verantwortlich sind in Wahrheit die Holzfirmen, die Feuerholz für die großen Städte schlagen – und zwar mit Genehmigung eben jener Forstbehörden, die die Armen wegen der Nutzung ihrer traditionellen Gemeingüter schikanieren. Obwohl Kerosin und Kochgas vom Staat subventioniert werden, ist klar, dass Biomasse auch in Zukunft die wichtigste Energiequelle für die Adivasi bleibt. Sollen nicht zahllose arme Menschen in Indien ihre wichtigste Energiequelle verlieren, müssen die Wälder nachhaltig genutzt und geschützt werden.

Es dürfte inzwischen klar sein, warum Menschen, die von Entwicklungsprojekten in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, sich so vehement gegen diese Projekte wehren: Sie zerstören Gemeinressourcen.

Eine Frage der Kultur und der Überzeugungen

Eine soziale Bewegung ist fast immer auch eine kulturelle Bewegung. Wenn wir ihre Motive und ihr Fortdauern verstehen wollen, müssen wir zunächst verstehen, wie sich die Bewegung aus ihren tiefen kulturellen Wurzeln nährt. Mit anderen Worten: Wollen wir die Beweggründe des Widerstands verstehen, müssen wir uns mit den Kulturen der an den Flüssen siedelnden Menschen befassen.

Überall in der Welt haben Flüsse seit jeher eine wichtige Rolle beim Aufstieg von Zivilisationen gespielt. Die Menschen, die an ihren Ufern leben, bringen den Flüssen tiefe Verehrung entgegen, wie die vielen Tempel und heiligen Stätten beweisen, die sich in ganz Indien an den Flussufern finden. Das Bad in einem Fluss wird weithin als Ritual gesehen, mit dem man sich von seinen Sünden reinwäscht. Dabei steht das Fließen des Wassers im Kern dieses Glaubens: Die mit jedem Fluss assoziierte Gottheit gilt als jungfräulich, und ihre Reinheit wird durch den beständigen Strom bewahrt. Diese Überzeugungen werden durch die Rituale bestärkt, die viele Millionen Inder tagtäglich in den Tempeln an den Flussufern vollziehen sowie in unzähligen Liedern und Geschichten, in denen die Flüsse als Ernährer und Lebensspender verehrt werden. In vielen Frauengesängen wird der Fluss als einfühlsame Wesenheit beschrieben; nur er kann die Traurigkeit des Daseins als Frau verstehen. Sein unaufhörliches Fließen symbolisiert Standhaftigkeit. Der Fluss ist ein beständiger Begleiter, der den Frauen mit seinen lebenserhaltenden Eigenschaften Trost und Gutes im Alltag spendet. Das überrascht kaum, wenn man bedenkt, dass indische Frauen einen Großteil ihres Lebens in und an Flüssen verbringen – sei es, um Wasser zu holen, Kleider zu waschen oder um in Gruppen darin zu baden.

Zum Glaubenssystem der Adivasi gehört, dass die Wälder, das Feuer, der Donner und der Regen, die Sonne, der Mond und die Sterne sowie andere Elemente verehrt werden, die – im Guten wie im Schlechten – ihr Leben beeinflussen. Daher beruhen die meisten Rituale der Adivasi darauf, den Frieden mit diesen Elementen zu bewahren. Wenn ihnen ein militantes Besitzgefühl für das Land, auf dem sie leben, zu eigen ist, dann deshalb, weil die Gebeine ihrer Ahnen darin begraben liegen und die Geister ihrer Vorfahren darüber wachen. Um einen etwas hinkenden Vergleich zur satellitenbasierten globalen Telekommunikationstechnologie zu bemühen, könnte man sagen, dass auf dieselbe Weise, wie die Bodenstationen die unerlässliche Verbindung zu den unsichtbar um die Erde kreisenden Satelliten sind, die Adivasi in den Geistern ihrer Ahnen die Verbindung zu den Elementen der Natur sehen, die über ihr Leben mitbestimmen. Die Rituale, in deren Mittelpunkt die Totempfähle auf den Begräbnisstätten sind, belegen, wie sehr sie auf diese Geister angewiesen sind, um die Elemente zu besänftigen und für Sicherheit in ihrem Leben zu sorgen. Da die räumliche Nähe zu den Grabstätten der Ahnen in ihrem Glaubenssystem zentral ist, ist die Vorstellung, von diesen Stätten vertrieben zu werden, für sie dermaßen verwirrend, fremd und unfassbar, dass sie in militanten Widerstand umschlagen kann. Stellen wir uns vor, was passieren würde, wenn das Land, auf dem die Bodenstationen für die Satellitenkommunikation stehen, in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt werden sollte.

Im Glaubenssystem der Adivasi sind die Grabstätten ihrer Ahnen ebensolche »Bodenstationen«. Kein Wunder also, dass sie sich allen Versuchen widersetzen, sie von ihrem Land zu vertreiben, und dass sie auf Angebote der Umsiedlung in andere Gebiete mit Unverständnis und Zorn reagieren. Ein Bauer, der kein Adivasi ist und keine solche Verbindung zu seinem Land empfindet, mag auf ein solches Angebot eingehen, vorausgesetzt die im Austausch angebotenen Flächen sind an gemessen und von guter Qualität. Aber für die Adivasi ist das Land nicht nur etwas Materielles. Wie also könnten sie ein Stück Land gegen ein anderes eintauschen?
Das sind Beispiele, die zeigen, was Menschen vor Ort in den Widerstand gegen Projekte wie die Narmada-Talsperren treibt. Da aber der offizielle Diskurs meist einzig und allein um die Frage der »Entwicklung« kreist und die Glaubenssysteme als Bestandteil der menschlichen Entwicklung außen vor lässt, bleiben diese Motive in aller Regel unsichtbar. Tatsächlich aber ist die Modernisierungsagenda nicht allein auf »Entwicklung«, eine sehr spezielle und materielle Form der Entwicklung, ausgerichtet, die »Rückständigkeit« beseitigt, sondern sie will auch traditionelle Glaubenssysteme und Rituale der modernen Welt anpassen und durch wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzen. Vielleicht hielt Nehru die auf dörflichen Strukturen basierenden Kulturen für rückständig, weil im mechanistischen marxistischen Denken derartige Glaubenssysteme Ausdruck eines »falschen Bewusstseins« sind, das die Menschen daran hindert, ein »angemessenes« Verständnis für die materiellen Grundlagen des Lebens und des Seins zu entwickeln.

Dass ihre Wissenschaftlichkeit den traditionellen Kulturen überlegen ist, liegt für die Staudamm-Fürsprecher auf der Hand. Sollen die Adivasi etwa weiter leben wie seit Jahrhunderten, als Museumsstücke, entsprechend ihrer überkommenen Kultur und Glaubenssysteme? Haben sie kein Recht auf Fortschritt? Natürlich hat jede gesellschaftliche Gruppe das Recht auf Veränderung. Aber Veränderung muss ein Prozess sein, der sicherstellt, dass die betroffene Gruppe gesellschaftlich, ökonomisch und politisch ermächtigt ist, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Und sie muss ein Prozess sein, der ihre Würde wahrt und ihnen die Möglichkeit gibt, das Zusammentreffen von Tradition und Modernität so zu gestalten, dass es assimilierend und nicht zerstörend verläuft.
Eine knappe Anweisung, traditionelle Siedlungsgebiete im nationalen Interesse zu räumen, gibt den marginalisierten Menschen keinerlei Möglichkeit, sich irgendwie auf die Modernisierung einzustellen. Vielmehr kann und wird sie sie nur noch mehr entfremden. Deshalb ist eine weitaus gründlichere Debatte als bisher notwendig, um das Konzept und die Bedeutung der »spirituellen Sicherheit« ebenso zu erfassen wie uns das in der Sphäre des Materiellen gelingt. Und damit wir nicht in Versuchung geraten, den Verweis auf »spirituelle Sicherheit« als Glorifizierung einer verqueren Irrationalität abzutun, sollten wir uns daran erinnern, dass Glaubenssätze selbst im Reich des Rationalen, des Wissenschaftlichen durchaus eine wichtige Rolle spielen.
Der große deutsche Physiker Max Planck sagte einmal mit Blick auf die heftigen Widerstände gegen die Vorstellung einer Quantenmechanik – der er, obwohl er sie als erster beschrieb, anfangs selbst skeptisch gegenüberstand –, dass logische Argumente und experimentelle Beweise die Überzeugungen, die er bis dahin gehegt hatte, nicht sofort zu verändern vermochten. Der Widerstand gegen neue Sichtweisen, behauptete er, schwindet vor allem, wenn die alte Wissenschaftlergeneration abtritt und eine neue Generation mit neuen Ideen die Bühne betritt – ein Bild, das dem des Paradigmenwechsels von Thomas Kuhn ähnlich ist, der im Laufe der Zeit aus dem Voranschreiten wissenschaftlicher Erkenntnisse entsteht. Diese Paradigmenwechsel müssen genug Freiheit lassen, um neue Ansätze zu erkunden und auszuprobieren. Wird diese Freiheit genommen, kann der Widerstand der Menschen erstaunliche Kraft gewinnen. Schließlich können weder Kulturen noch Glaubens- noch Lebensverhältnisse gewaltsam verändert werden, egal wie technologisch geschickt das auch geschehen soll.

Literatur

  • All India People’s Science Network (AIPSN) (1994): Report on the Consultation for Restructuring the Sardar Sarovar Project (als Mimeographie), Neu Delhi.
  • Baviskar, Amita (1995): In the Belly of the River – Tribal Conflicts over Development in the Narmada Valley, Neu Delhi.
  • Ganguli, Birendranaht N. (1973): Gandhi’s Social Philosophy, Indian Social Science Research Council, Neu Delhi.
  • ICOLD (1998): World Register of Dams, Paris.
  • Kurian, Priya (1988): Land and Water Review. McCully, Paul (1996): Silenced Rivers, The Ecology and Politics of Large Dams, London.
  • Raina, Vinod (1994): »Sardar Sarovar: Case for Lowering Dam Height«, in: Economic and Political Weekly, April 2/94, Bombay.
  • Raina, Vinod (1998): Waters of Conflict – Alternatives in River Valley Projects; Rediscovering Kapil Bhatacharya and Megnad Saha, Nehru Memorial Museum and Library, 1998.

  1. Die indischen Ureinwohner (Anm. der Hg.).
  2. Die sogenannten »Unberührbaren« (Anm. der Hg.).
  3. Die Informationen werden auf der Seite der ICOLD ständig aktualisiert, siehe unter: http://www.icold-cigb.net/GB/World_register/general_synthesis.asp?IDA=206 (Zugriff am 23.11.2011).
  4. Das Tennessee-Valley-Modell sah vor, das ganze Flusseinzugsgebiet zu entwickeln, das heißt nicht nur den Hauptstrom, sondern auch alle Zuflüsse in die Projekte einzubeziehen.
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