Ein alter Zugbrunnen
Bild: "Pozo de agua en Bellestar de Flumen" von McBodes [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons

Ugo Mattei – Eine kurze Phänomenologie der Commons

Ugo Mattei

Die Ursprünge der modernen Wissensordnung

Die Teilhabe an Gemeingütern ist kein Zugeständnis. Sie stehen Menschen einfach zu, weil sie lebensnotwendig sind. Alle haben das Recht auf einen gleichen Anteil an ihnen. Daher muss die Gesetzgebung jeden ermächtigen, dieses gleiche und unmittelbare Zugangsrecht auch durchzusetzen. Zudem tragen alle gleichermaßen Verantwortung für die Gemeingüter wie Wasser, Land, Luft. Sie teilen die Verpflichtung, deren Reichtum an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Commons, als machtvolle Quelle von Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit, stehen heute im klaren Gegensatz zum Staat sowie zu jener Form des Privateigentums, die vom Markt hervorgebracht wird. Doch sie wurden vom positivistischen wissenschaftlichen Diskurs regelrecht verschüttet. Wir müssen daher den Commons durch eine neue, ganzheitliche Sichtweise wieder zu ihrem Recht verhelfen, damit sie ihr emanzipatorisches Potential entfalten können.

Gewöhnlich wird der Anspruch auf soziale Gerechtigkeit durch die »Menschenrechte der zweiten Generation« begründet, die der Staat in besonderer Weise verpflichtet ist zu respektieren und zu garantieren. In den westlichen Demokratien sind die (derzeit schwächelnden) Institutionen des Wohlfahrtsstaates für soziale Gerechtigkeit zuständig.

Die Vorstellung, vor allem der Staat habe soziale Rechte abzusichern, war für die Entwicklung der westlichen Rechtsprechung zentral. Seit der wissenschaftlichen Revolution und der Reformation wurden Fragen der sozialen Gerechtigkeit aus dem Kernbereich des Privatrechtes ausgeschlossen. Das scholastische Rechtsverständnis des 16. Jahrhunderts – das auf zwei Gerechtigkeitskonzeptionen beruhte, nämlich Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit – wurde mit der Entstehung des westlichen Rechtssystems aufgegeben. Im 17. Jahrhundert – etwa seit Grotius – begann man, Gerechtigkeitsfragen mit Fairness in vertraglichen Vereinbarungen zwischen Individuen gleichzusetzen. Das Problem der Verteilung galt als nur auf die ganze Gesellschaft anwendbar, nicht auf einzelne Teile. Verteilung wurde fortan als sozialer Tatbestand angesehen. Damit war die Rechtsprechung für Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr zuständig.

Eine weitere bedeutende Veränderung im 17. Jahrhundert war die sogenannte wissenschaftliche Revolution, die dem Positivismus und der modernen Wissens ordnung zum Durchbruch verhalf (Capra 2009). Nach diesem Weltbild müssen Fakten von Werten getrennt werden, denn die »Welt, wie sie ist« sei klar von der »Welt, wie sie sein sollte« zu unterscheiden. Die Ökonomie, die sich im 18. Jahrhundert als autonomer Zweig der Wissenschaft entwickelte, folgte dieser Sichtweise (Blaug 1962). Verteilung wurde vollständig den politischen Werten zugeordnet (»was sein sollte«), und nicht dem Bereich messbarer Fakten (»was ist«). Damit war die Diskussion, wie Ressourcen in einer gerechten Gesellschaft zu verteilen sind, nicht nur aus der Rechtswissenschaft verbannt, sondern auch aus dem per Eigendefinition zur Wissenschaft erhobenen ökonomischen Diskurs.

Verteilungsgerechtigkeit wurde somit Gegenstand der Politik, die (wenn überhaupt) von staatlichen Institutionen des öffentlichen Rechts oder über ordnungspolitische Instrumente bearbeitet wurde. Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates im frühen 20. Jahrhundert galt als außergewöhnlicher staatlicher Eingriff in die Marktordnung. Er erfolgte hauptsächlich durch Besteuerung, die zum Ziel hatte, den schwächeren Mitgliedern einer Gesellschaft ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit zu garantieren. Soziale Gerechtigkeit konnte seit dieser Zeit im Westen nicht mehr bis ins Zentrum des rechtlichen Diskurses vordringen. Sie blieb den finanziellen Krisen ausgeliefert: kein Geld, keine sozialen Rechte (Mattei/Nicola 2006)!

Die Idee der Commons bietet uns nun, rechtlich und politisch, genau jene Instrumente, die wir brauchen, um die zunehmende Marginalisierung sozialer Gerechtigkeit wieder anzusprechen. Weil die Commons jenseits des Duopols Staat und Markt angesiedelt sind, liefert ihr institutioneller Rahmen ein alternatives juristisches Denkmodell, das eine gerechtere Ressourcenverteilung ermöglicht.1 Da Commons die Menschen unmittelbar zum Handeln ermächtigen, können sie – falls theoretisch und politisch durchdacht – eine wichtige Rolle dabei spielen, die soziale Gerechtigkeit wieder ins Zentrum des rechtlichen und ökonomischen Diskurses zu rücken.

Die Commons wahrnehmen

Derzeit sieht es so aus, als würden die beiden Pole – »das Öffentliche« (der Einflussbereich der Regierung) und »das Private« (der Bereich von Markt und Privateigentum) – das ganze Spektrum der Handlungsmöglichkeiten abdecken. Diese starre Polarität ist eine Folge der modernistischen Tradition, die noch immer die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften dominiert. Sie entzieht die Commons der öffentlichen Wahrnehmung.

Commons erfüllen Aufgaben, die von ihren Nutzern oft für selbstverständlich gehalten werden: Viele, die von ihnen profitieren, schenken ihrem wahren Wert kaum Beachtung. Vielmehr erkennen sie ihn erst, wenn die Commons zerstört sind und Ersatz gefunden werden muss. Commons ähneln gewissermaßen der Hausarbeit, die erst dann wahrgenommen wird, wenn sie nicht erledigt wird. Wenn niemand das Geschirr spült, erkennt man den Wert dieses Tuns. Mit anderen Worten: Wir vermissen manche Dinge erst, wenn sie verloren gegangen sind – wie die Mangrovenwälder in den Küstenregionen. Wenn Entscheidungen über Entwicklungsvorhaben zu treffen sind, halten Menschen die Existenz der Mangroven für selbstverständlich. Sie denken nicht an deren Rolle für den Schutz der Küstenorte vor Tsunamis. Erst wenn der Tsunami anrollt und die Dörfer zerstört, wird die Bedeutung der Mangrovenwälder wirklich deutlich (Brown 2009). Einen gleichwertigen, künstlichen Schutzwall zu bauen, wäre extrem teuer.

Es ist politisch immens wichtig und auch für jedes ernsthafte wissenschaftliche Vorgehen unabdingbar, die Commons sichtbar zu machen und ihre Rolle für das Leben in Gänze anzuerkennen. Man kann sich dabei nicht mit einem beschränkten Begriffsverständnis der Analyse der Commons nähern. Weil genau dies aber getan wurde, konnten die vorherrschenden Sozialwissenschaften diese Null-Summen-Dualität von Markt und Staat verinnerlichen, und daher fehlt es ihnen auch an Werkzeugen für eine treffende Analyse der Commons.

Man könnte es so ausdrücken: Commons verschwinden, weil sie strukturell mit wesentlichen Aspekten des westlichen Rechtssystems unvereinbar sind. Die Rechtsprechung hat den Individualismus und die Dichotomie von Staat und Privateigentum miteinander verkoppelt und zu ihrer alleingültigen Grundlage gemacht. Schon im alten Rom, Jahrhunderte vor der Geburt des modernen Staates, haben mächtige Familien ihre Ländereien durch die Aneignung von Commons ausgeweitet. Engels beschrieb die private Aneignung der Commons als das grundlegende Muster der wirtschaftlichen Entwicklung Europas. Westliches Recht hat also bei der Zerstörung der Commons eine wichtige Rolle gespielt und keineswegs zu ihrem Schutz beigetragen. Auch der Wissenskapitalismus scheint diesem Muster noch zu folgen (Boyle 2003), man denke nur an die gerichtliche Verfolgung des Peer-to-Peer-Filesharing im Internet.[2 | Filesharing bezeichnet die direkte Weitergabe von Dateien zwischen Internetnutzern unter Verwendung eines Peer-to-Peer-Netzwerks. Die Dateien befinden sich auf den Computern der Teilnehmer oder auf dafür zweckgebundenen Servern und werden von dort aus verteilt. Filesharing ist vielen Unternehmen der Unterhaltungsindustrie ein Dorn im Auge, sie versuchen deshalb gerichtlich dagegen vorzugehen. Unter anderem wird Strafanzeige gegen Provider erstattet, um die Herausgabe von Kundendaten durchzusetzen und (Massen-)Abmahnungen oder Klagen gegen die Nutzer einzuleiten (Anm. der Hg.).]

Für Commoners war es immer schwierig, eine Vertretung vor Gericht zu finden, um gegen jene zu klagen, die sich die Gemeingüter anzueignen versuchten. Schließlich nützen die Commons früher wie heute vor allem armen Bauern (oder jungen Internetsurfern), die kein Geld haben, den Rechtsweg zu beschreiten. Erinnern wir uns, wie leicht die Bauern in England in der entscheidenden Phase des beginnenden Kapitalismus Opfer von Einhegungen, sprich: Landnahme, wurden und schließlich die notwendige Arbeitskraft für die aufstrebenden Manufakturen stellten. Sowohl die Einhegungen als auch die gewaltsame Rekrutierung der enteigneten Bauern für den Arbeitsmarkt wären ohne das Bündnis zwischen dem Privateigentum (als Rechtsinstitut) und dem Staat schlichtweg unmöglich gewesen (Tigar 1977).

Diese Ausgangssituation und die Struktur unseres westlichen Rechtsrahmens sind der Grund dafür, dass Commons heute ein kaum beachteter theoretischer Ausnahmefall zwischen entweder dem Markt oder dem Staat darstellen. So werden sozial konstruierte und politisch festgelegte Fakten zur unumstößlich erscheinenden Realität.

Die Markt/Staat-Dichotomie entzaubern

Privateigentum und Staat sind die beiden großen Institutionen in Recht und Politik, die die duale Weltsicht am Leben erhalten. Diskussionen, die diese Dichotomie reproduzieren, laufen in die falsche Richtung. Denn hier wird ein Unterschied konstruiert, der nicht existiert. Der Staat ist nicht mehr der demokratisch legitimierte Vertreter der Gemeinschaft aller Individuen, sondern längst ein Marktakteur unter vielen. Das Zusammenspiel oder gar die Verschmelzung staatlicher und privater Interessen lässt wenig Spielraum für eine Infrastruktur der Commons, so überzeugend die Belege für ihren Nutzen auch sein mögen.

Gemeinhin werden Markt und Staat heute als radikal miteinander im Konflikt stehende Institutionen dargestellt. Etwas kryptisch wird eine Null-Summen-Beziehung behauptet: mehr Staat bedeute weniger Markt, und weniger Markt bedeute mehr Staat. In dieser vereinfachenden Schematisierung stehen Staat und Privateigentum exemplarisch für die Pole »öffentlich« und »privat«. Dieses Bild ist falsch. Weder vor noch in der Moderne war es zutreffend, denn strukturell stehen die beiden Bereiche als soziale und lebendige Organisationen in einer symbiotischen Beziehung zueinander. Der behauptete Widerspruch ist ein Kunstprodukt. Er ist das Ergebnis einer ideologischen Entscheidung in der Tradition des Individualismus und trat als Konflikt bereits zu Beginn des liberalen Individualismus zu Tage, nämlich bei John Locke und Thomas Hobbes, den beiden bedeutendsten Verfechtern des Privateigentums einerseits und des Staates als Souverän andererseits.

Diese Reduktion auf den Dualismus Markt versus Staat verschleiert, dass Eigentum (Markt) und Souveränität (Staat) eine gemeinsame Struktur haben, die auf Machtkonzentration beruht. In privaten Strukturen (Unternehmen) konzentrieren sich die Entscheidungsmacht und die Macht, andere auszuschließen, in den Händen einer Person (dem Eigentümer) oder in einer Hierarchie (dem Geschäftsführer). Ganz ähnlich liegt in öffentlichen Institutionen (Bürokratien) die Macht in den Händen jener, die sich ganz oben in der Hierarchie befinden. Beide Archetypen ruhen auf dem gleichen Fundament: der Herrschaft eines Subjekts (eines Individuums, eines Unternehmens, der Regierung) über ein Objekt (ein privates Gut, eine Organisation, ein Territorium). Einen Gegensatz zwischen diesen Bereichen zu behaupten, obwohl sie genauso strukturiert sind, ist Ergebnis des modernen cartesianischen, reduktionistischen, quantitativen und individualistischen Denkens.

Das individualisierte Subjekt – einsam, narzisstisch und bedürftig – befriedigt nun seine Wünsche über Produkte, Waren und Objekte. Der Blick für die Beziehungsvielfalt ist leer geworden, was auch zu unserer Entfremdung von der Natur geführt hat (»wir besitzen sie, also sind wir nicht Teil von ihr«). Die Natur wird nunmehr wissenschaftlich als »objektiv« konstruiert. Nach der dominanten Lehre zeigt sich diese Objektivität darin, dass jegliche menschliche Interaktion messbar wird – und zwar durch ein Preissystem, das den Wert der Dinge bestimmt. »Objektive« Preise müssen für die Befriedigung aller »Bedürfnisse« gezahlt werden – von den einfachsten bis zu den komplexesten, sie alle wurden kommodifiziert.

Diese typisch individualistische »Erzählung« in liberaler Tradition (wie im Mythos von Robinson Crusoe) weckt Bedürfnisse, die der Markt befriedigen soll, während Gemeinschaftserfahrungen aus unserem Bewusstsein verdrängt werden. Je mehr Bedürfnisse das einsame Individuum hat, umso mehr Geld kann man mit deren Befriedigung verdienen. So muss sich das qualitative Denken in sinnhaften Beziehungen einem quantitativen unterordnen.

Offenbar spielen Ökologie und systemisches Denken – Sichtweisen, die die zerstörerischen Auswirkungen individueller Akkumulation auf die Allgemeinheit sichtbar machen könnten – in der heutigen Politik keine Rolle. Das liegt auch daran, dass sie die Sozialwissenschaft als alleinigen Ideengeber ansieht (insbesondere Mikroökonomik, Politikwissenschaft und Marketing). Im Gegensatz zu der berühmten Aussage des Mikrobiologen Garrett Hardin über die »Tragik der Allmende« nach der »eine Allmende ein gesetzloser Ort ist, der der Zerstörung anheimfällt«, sind es heute Staat und Markt, die diese Zerstörung verantworten, indem sie sich ausschließlich auf das »Individuum« beziehen (Feeney et al. 1990).

Zwei grundverschiedene Weltbilder: Wettbewerb versus Kooperation

Die Grundannahme Hardins ist, dass der Mensch vom individuellen Eigennutz getrieben sei. Nur die sture Anwendung des Modells des Homo oeconomicus2 erklärt die Ergebnisse (und den akademischen Erfolg) der sogenannten »Tragik der Allmende«. Der Homo oeconomicus tauchte erstmals im Werk von John Stuart Mill auf und wurde im 18. Jahrhundert von Adam Smith und David Ricardo im Mainstream der politischen Ökonomie verankert. Beide legten ihr Hauptaugenmerk auf das Individuum als kurzfristigen Nutzenmaximierer. Hardins Parabel schloss an diese Tradition an, indem sie die Commons als gesetzlosen Ort beschrieb. Dort könne sich jeder nach Belieben gemeinsam zu nutzende Ressourcen aneignen, was Anreize für Opportunismus und das Anhäufen von Dingen schaffe. Das führe schließlich zu einem zerstörerischen und »ineffezienten« Konsum.

Hier wird also das Bild eines Menschen beschworen, der zu einem Buffet geladen ist, bei dem alle nach Belieben zulangen können: Statt die Fülle mit anderen zu teilen, setzt dieser Mensch alles daran, die Kalorienmenge zu maximieren, die er auf Kosten anderer zu sich nimmt, indem er so viel wie möglich so effizient wie möglich und so schnell wie möglich verschlingt. Weist die »Tragik der Allmende« auf den Widerspruch zwischen zwei Weltbildern hin?3 Die dominante Weltsicht ist im Wesentlichen sozialdarwinistisch. Sie macht Konkurrenz, Kampf und Wettbewerb zwischen physischen und juristischen Personen zur Essenz unseres Seins. Ein ökologisches und ganzheitliches Verständnis der Welt, basierend auf Beziehungen, Kooperationen und Gemeinschaftlichkeit, wird dabei verdrängt. Dieses Modell, das in der Organisation von Gemeinschaften an der »Peripherie«4 noch lebendig ist, wird durch Strukturanpassungen und umfassende »Modernisierungs- und Entwicklungspläne« der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds weiterhin gnadenlos unter Druck gesetzt. Wie viele der Beiträge in diesem Band belegen, fördern diese Bestrebungen die »Kommodifizierung« – das Zur-Ware-Werden – von Land und lokalem Wissen ebenso wie die kulturelle Anpassung, die durchgesetzt wird in Form von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit oder Geschlechtergerechtigkeit usw. und anschließend als rhetorische Rechtfertigung für die weitere Plünderung dient (Mattei/Nader 2008).

Elinor Ostrom und ihr Team von Sozialwissenschaftlern haben überwältigend viele empirische Beweise zusammengetragen, die zeigen, dass Gemeineigentums-formen erfolgreich sind und dass Individuen ihre gemeinsamen Ressourcen nicht notwendigerweise zerstören. Ostroms Arbeit stellt unbestreitbar einen entscheidenden Wendepunkt in der Wirtschaftstheorie dar. Sie widerlegt Hardins Tragik – aber sie übersieht, dass sich zwar nicht die Individuen, wohl aber Unternehmen und Staaten so benehmen, dass es tatsächlich eine Tragik gibt. Ohne Referenz auf die harten politischen und juristischen Kämpfe zwischen Commoners auf der einen und der unheiligen Allianz zwischen Staat und Privateigentum (Kapital) auf der andere Seite, die im Laufe der Geschichte ausgefochten wurden, bleibt die Anwendbarkeit von Ostroms Forschungen begrenzt.
Die sogenannte »ursprüngliche Akkumulation«, wie sie Marx beschrieb, hat sich längst institutionalisiert. Sie wird von zentralistischen staatlichen Strukturen und dem Kapital, das sich in Privateigentum und Konzernen konzentriert, gemeinsam fortgesetzt (und zugleich ideologisch legitimiert). Opfer dieser institutionalisierten Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit sind die einfachen (»nichtinstitutionellen«) Menschen. Das Phänomen bleibt keinesfalls auf die »parlamentarischen Einhegungen«5 in England beschränkt. Die These von der terra nullius (dem Niemandsland), die von John Locke und anderen Gelehrten im Zuge der Kolonisierung untermauert wurde, unterstützte den institutionellen Charakter des »tragödienproduzierenden« Verhaltens (Mattei/Nader 2008). Der indigenen Bevölkerung wurde schlicht das »Menschsein« abgesprochen; sie wurden auf »den Naturzustand« reduziert, weil sie die zivilisierende Institution des Privateigentums nicht hinnahmen. Später waren die Herrschaftsmuster, die institutionellen Strukturen und die Grundformen der Einhegungen subtiler, aber nach wie vor verdrängen sie die Commons.

Hardins Parabel behält trotz ihrer theoretischen Mängel – etwa dass Commons gesetzlose Orte seien – eine erhebliche voraussagende Kraft, obwohl in der Regel »normale Menschen« (außerhalb moderner Institutionen) die Commons respektieren. »Institutionelle Personen« wie Staaten oder Unternehmen, die als Homo oeconomicus agieren, produzieren weiterhin tragische Ergebnisse. Daher scheinen auch Ostroms zahlreiche Beispiele von »Menschen aus Fleisch und Blut«, die kooperieren statt zu konkurrieren, nicht machtvoll genug, um Hardins Argumente zu widerlegen. Nur unzureichend berücksichtigen sie die institutionellen Realitäten und die realen Machtverhältnisse. Das birgt die Gefahr, dass Ostroms Kritik an der »Tragik der Allmende« die Aufmerksamkeit von den Problemen ablenkt und machtvolle Akteure in Wirtschaft und Politik davor schützt, sich für diese Tragödien verantworten zu müssen.

Ein Großteil der Commons-Literatur sollte noch einmal sorgfältig und kritisch geprüft werden, damit wir nicht erneut einer mechanistischen Perspektive aufsitzen, die die Trennung zwischen Objekt und Subjekt reproduziert und letztlich zur Warenform führt (Rota 1991).

Den Alltagsverstand ernst nehmen

Ein phänomenologisches Verständnis der Commons zwingt uns, den reduktionistischen Subjekt-Objekt-Gegensatz zu überwinden, der beides zur Ware macht. Es hilft uns zu verstehen, dass Commons (Gemeingüter) – anders als private und öffentliche Güter – keine Waren (Güter) sind und nicht auf Eigentumsfragen reduziert werden dürfen. Sie drücken vielmehr eine qualitative Beziehung aus. Es wäre verkürzt, zu sagen, wir haben ein Gemeingut. Wir sollten eher darüber nachdenken, in welchem Maße wir (die) Commons sind, insofern auch wir Teil der Umwelt, eines städtischen oder ländlichen Ökosystems sind. Subjekt und Objekt sind untrennbar. Commons sind also ein unauflösbares Verhältnis, das Individuen, Gemeinschaften und das Ökosystem miteinander verbindet. Diese ganzheitliche Revolution hat tiefe historische Wurzeln, von Aristoteles’ Seinslehre bis hin zu jüngeren Philosophen wie Husserl und Heidegger, die Konzepte wie »Fundierung« (Heidegger) oder »Relevanz« nutzten, um das Ende der objektiven Welt zu bezeichnen, in der die Subjekte von den beobachteten Objekten getrennt werden und die Individuen von ihrer Umgebung. Auch in den Naturwissenschaften sind neue, ganzheitliche Ansätze entstanden, etwa in der Physik oder in der systemischen Biologie. Sie beruhen eher auf einer qualitativen Beschreibung von Beziehungen als auf quantitativen Messungen und dem positivistischen Reduktionismus eines Galilei, Descartes oder Newton (Capra 2004). Besonders die Quantenmechanik und Einsteins Relativitätstheorie haben eine erkenntnistheoretische Revolution ausgelöst, mit der sich die Kognitionswissenschaften oder die Bewusstseinsforschung auseinandersetzen. Die Sozialwissenschaften konnten sich dieser ganzheitlichen Betrachtung noch nicht wirklich öffnen.

Commons können nur aus einer phänomenologischen und ganzheitlichen Perspektive beschrieben werden, die mit dem Reduktionismus unvereinbar ist. Unvereinbar ist sie auch mit der Behauptung individueller Autonomie, so wie sie in der kapitalistischen Tradition aus der Idee individueller Rechte entwickelt wurde. Commons hingegen ist eine ökologisch-qualitative Kategorie, die auf Inklusion, freiem Zugang und gemeinsamer Verantwortung basiert, während Eigentum und staatliche Souveränität polit-ökonomisch-quantitative Kategorien sind, die auf Exklusion (produzierter Knappheit)6 gründen: Die Rede von den individuellen Rechten geht mit der mitunter gewaltsamen Machtkonzentration in den Händen Weniger einher.

Dies sollte Juristen veranlassen, sich der schwierigen, aber drängenden Aufgabe zuzuwenden, die Fundamente einer neuen Rechtsordnung zu entwickeln, die den gegenwärtigen Dualismus (Eigentum/Staat, Subjekt/Objekt, öffentlich/privat) überwindet. Eine solche Ordnung muss die Dominanz des Privateigentums, des Individualismus und des Wettbewerbs hinter sich lassen und die Interessen der Allgemeinheit in den Blick nehmen. Wir brauchen Institutionen, die Nachhaltigkeit und die volle Teilhabe aller Commoners weltweit ermöglichen – auch die der Ärmsten und Verletzlichsten.

Ein politischer Paradigmenwechsel

Angesichts der globalen Erwärmung oder der Wirtschaftskrise bieten uns Commons die Chance, die Realität grundlegend anders wahrzunehmen. Das ist auch dringend geboten! Commons helfen uns, die Illusionen des modernen Liberalismus und Rationalismus zurückzuweisen. Deswegen reicht es nicht, sie einfach nur als dritten Weg zwischen Staat und Privateigentum zu beschreiben, wie das aktuell oft geschieht. Commons können nicht darauf reduziert werden, die Reste zu verwalten, die vom Bankett der westlichen Geschichte übrig sind – doch genau dies scheint gegenwärtig das Anliegen der Politik. Commons – nicht als dritter Weg, sondern als Konzept – brauchen einen institutionellen und einen rechtlichen Rahmen, der es ermöglicht, das Bündnis zwischen Privateigentum und Staat aufzubrechen.

Die Veränderung, die wir politisch und theoretisch durchsetzen müssen, ist im Wesentlichen eine Veränderung der vorherrschenden Wissensordnung – statt von der absoluten Herrschaft des Subjekts (als Eigentümer oder Staat) über das Objekt (als natürliche Umwelt oder Territorium) auszugehen, sollten wir das Verhältnis zwischen beiden (Subjekt und Natur) in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen wieder neu begreifen, dass das Überleben jedes Individuums von seiner Verbundenheit mit anderen, mit der Gemeinschaft und mit der Umwelt abhängt. Die erste Veränderung hin zu einer holistischen Sichtweise ist die Umorientierung von der Quantität (einem zentralen Aspekt der wissenschaftlichen Revolution und der kapitalistischen Akkumulation) hin zur Qualität.

Ein Rechtssystem, das auf Commons aufbaut, muss die Vorstellung von Hierarchie zugunsten eines partizipatorischen und kooperativen Modells aufgeben. Eines Modells, welches die Konzentration von Macht verhindert und die Interessen der Gemeinschaft ins Zentrum stellt. Nur in einem solchen Rahmen kann der Anspruch auf soziale Rechte wirklich erfüllt werden. In dieser Logik sind Commons nicht einfach Ressourcen (Wasser, Kultur, das Internet, Land, Bildung), sondern eher eine mit anderen geteilte Wahrnehmung unserer Realität, die sich radikal dem scheinbar unaufhaltsamen Trend entgegenstellt, alles einer betriebswirtschaftlichen Logik zu unterwerfen. Trotz der dramatischen Krise von 2008 werden auch heute noch erhebliche öffentliche Mittel durch staatliche, angeblich keynesianische Eingriffe in den Privatsektor verschoben. Die Logik der Plünderung könnte offensichtlicher nicht sein.

Weniger Staat, weniger Markt, mehr Commons – das ist, so glaube ich, der einzige Weg, um einer anderen Erzählung von sozialer Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

Literatur

  • Blaug, Mark (1962): Economic Theory in Retrospect, Homewood/London.
  • Boyle, James (2003): »The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain«, in: Law and Contemporary Problems, 66, S. 33-75.
  • Brown, Lester R. (2009): Plan B 4.0. Mobilizing to Save Civilization, New York/ London.
  • Capra, Fritjof (2004): The Web of Life. A New Scientific Understanding of Living Systems, New York.
  • Feeney, David/Berkes, Fikret/McCay, Bonnie J./Acheson, James M. (1990): »The Tragedy of the Commons: Twenty-Two Years Later«, in: Human Ecology, Bd. 18, Nr. 1.
  • Hardin, Garrett (1968): »The Tragedy of the Commons«, in: Science, 13 December 1968, S. 1243-1248.
  • Mattei Ugo (2011): Beni comuni. Un manifesto, Laterza/Bari/Rom 2011.
  • Mattei, Ugo/Nader, Laura (2008): Plunder. When The Rule of Law is Illegal, Hoboken.
  • Mattei, Ugo/Nicola, Fernanda (2006): »A Social Dimension in European Private Law?«, in: The Call for Setting a Progressive Agenda, 45, New England, S. 1-66.
  • Rota, Gian Carlo (1991): The End of Objectivity. The Legacy of Phenomenology, Lectures at MIT 1974-1991, 2. vorläufige Ausgabe in Kooperation mit Sean Murphy und Jeff Thompson, Cambridge.
  • Tigar, Michael (1977): Law and the Rise of Capitalism, New York.
  1. siehe dazu auch den Beitrag von David Bollier und Burns Weston in diesem Buch (Anm. der Hg.).
  2. Siehe dazu auch den Beitrag von Friederike Habermann in diesem Buch.
  3. Den im Folgenden kurz benannten Widerspruch führt Andreas Weber in seinem Beitrag aus (Anm. der Hg.).
  4. Der Begriff bezeichnet die ein Machtzentrum umgebenden Gesellschaften, die in der Regel in einem Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Zentrum stehen (Anm. der Hg.).
  5. In England erforderten die »enclosures« wegen des Eingriffs in das auf Rechten und Pflichten von Landlords und Pächtern beruhende Feudalsystem einen separaten Parlamentsbeschluss für jedes einzelne Anwesen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden schließlich die Landlords durch sogenannte »Inclosure Acts« vom Parlament allgemein zur Einhegung ermächtigt (Anm. der Hg.).
  6. Mit »produzierter Knappheit« setzen sich auch Brian Davey, Silke Helfrich, Wolfgang Höschele und Roberto Verzola in einem Gespräch in diesem Buch auseinander (Anm. der Hg.).
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