Im September 2010 kamen in Brüssel hochrangige NATO-Offiziere, Sicherheitsanalysten und Angehörige der politischen Elite zu einer Konferenz zusammen; der Konferenztitel: »Protecting the Global Commons«. Die Teilnehmer gaben eine, gelinde gesagt, höchst ungewöhnliche Gruppe von Commoners ab. Es waren »führende Vertreter von EU-Institutionen und der NATO sowie Regierungsmitarbeiter, Vertreter der Privatwirtschaft, der internationalen und Fachmedien, Denkfabriken, Wissenschaft und NGOs«.
Auf dieser Veranstaltung, die von der in Brüssel ansässigen Denkfabrik Security & Defence Agenda ausgerichtet war, hatte man ganz eigene Vorstellungen davon, was unter globalen Gemeingütern zu verstehen ist. Die NATO begreift Gemeingüter nicht als ein von den Nutzern, den Commoners, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse gestaltetes, selbst organisiertes System. Nein. Für die Entscheidungsträger der NATO bestehen die »Global Commons« einfach aus den »leeren« Gebieten und Ressourcen, die jenseits der direkten und ausschließlichen Kontrolle der Nationalstaaten liegen, gleichwohl aber für den internationalen Handel und die militärische Sicherheit wichtig sind. Mit anderen Worten: Die NATO betrachtet diese Gebiete als Niemandsland, die keiner Kontrolle unterliegen, wobei es aus NATO-Sicht im Wesentlichen um den Weltraum, die Ozeane, den Luftraum und das Internet geht.
Nach Auffassung der Konferenzorganisatoren müssen die NATO-Mitgliedsländer diese globalen Gemeingüter irgendwie unter ihre Kontrolle bringen, damit nicht feindliche Länder, Schurkenstaaten oder Piraten den ökonomischen und militärischen Aktivitäten der USA und ihrer europäischen Verbündeten in die Quere kommen. Das mache die militärische Überwachung dieser »herrenlosen Gebiete« durch die NATO erforderlich.
Der Weltraum, die Weltmeere und das Internet sind kollektiv zu nutzende Ressourcen (»common pool resources« oder Gemeinressourcen). Sie gehören tatsächlich keinem Einzelnen, auch keinem Staat. Aber sie sind keine Commons, denn Commons erfordern die aktive Partizipation der Menschen bei der Festlegung und Durchsetzung der Nutzungsregeln für die jeweiligen Ressourcen – beziehungsweise die »Zustimmung der Regierten«, wie es in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ausgedrückt wird. Das allerdings ist offenbar nicht die Priorität der NATO. Laut Programm ging es bei der Veranstaltung vielmehr um folgende Fragen: Worin bestehen die politischen, praktischen und operationalen Herausforderungen, mit denen die NATO hinsichtlich der globalen Gemeingüter konfrontiert ist? Ist die Allianz ausreichend darauf vorbereitet, ihrer Verantwortung in einer Welt gerecht zu werden, in der der Weltraum, das Meer und der Cyberspace von zunehmender Bedeutung für die Interessen ihrer Mitgliedsstaaten sowie für die tägliche Arbeit des Bündnisses in Friedens- wie in Kriegszeiten sind? Welche Fähigkeiten wird das Bündnis entwickeln, welche Verantwortung übernehmen müssen, wenn sie in einer Welt, in der globale Gemeingüter immer wichtiger werden, nicht an Bedeutung verlieren will?
In einem Folgebericht der NATO zu dieser Veranstaltung stand unter dem Titel Assured Access to the Global Commons zu lesen: »Die Architektur des modernen internationalen Systems beruht auf dem gesicherten Zugang zu und der Stabilität der Gemeingüter. In seinem klassischen Werk von 1890, Der Einfluss der Seemacht auf die Geschichte, bezeichnete Alfred Thayer Mahan die Weltmeere als ›eine große Fernstraße […] ein weites Allgemeingut‹.«
In gewisser Hinsicht hat die NATO ja recht: Der Weltraum, die Ozeane und das Internet müssen tatsächlich allen verfügbar bleiben. Wie eine große Fernstraße. Sie sind »vitales Bindegewebe einer globalisierten Welt«. Die Frage allerdings, die auf der Konferenz offenbar nicht gestellt wurde (zumindest nicht in der offiziellen Tagesordnung und den zugänglichen Protokollen), lautet: Wie sollen und können gewöhnliche Bürger oder ihre Vertreter an diesen Beratungen teilnehmen und sicherstellen, dass dabei ihre Interessen berücksichtigt werden? Schließlich ist das der Kern einer demokratischen Gesellschaft.
Die NATO-Strategen verdrehen die Bedeutung des Commons-Begriffs, indem sie Commons als unregulierte Ressource definieren, von deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann. Das ist exakt derselbe Fehler, den Garrett Hardin 1968 in seinem berühmt-berüchtigten Essay Tragedy of the Commons beging. Aus der Festlegung der Weltmeere, des Weltraums und des Internets als Commons im hardinschen Sinne könnte sie nämlich die Rechtfertigung ableiten, diese Ressourcen zu kontrollieren. Das Ziel dahinter wäre geopolitische Dominanz. Oder, um es mit den Fragen des Konferenzprogramms auszudrücken: »Die Ozeane sind heute ebenso strategisches Schachbrett wie globales Gemeingut. Was geschieht heute auf den Weltmeeren? Was wird dort in Zukunft geschehen? Und was folgt daraus für das Bündnis?«
Die missbräuchliche Nutzung des Commons-Begriffs durch die NATO hinterlässt bereits Spuren. Im Jahr 2011 veranstalteten die Politikwissenschaftler Sameer Lalwani und Joshua Shifrinson vom MIT in der New America Foundation in Washington ein Strategieseminar, in dem vorgeschlagen wurde, die USA sollten »ihre vorgeschobene Marinepräsenz in vielen Regionen reduzieren, ohne dabei aber das ›Kommando über die Commons‹ aufzugeben. Sie können das erreichen, indem sie verstärkt auf die Hilfe regionaler Mächte bei der Sicherung der Freiheit der Meere setzen und zugleich ›hinter dem Horizont‹ eine ausreichend große Marinemacht für schnelle Einsätze unterhalten, die im Notfall die Freiheit garantiert.«
Hat wirklich niemand im Pentagon, bei der NATO oder in den Denkfabriken des Verteidigungsressorts Elinor Ostroms Arbeiten gelesen? Bitte, NATO, verzichtet einfach auf den Begriff der »Commons«!
Besser noch wäre, endlich neue Institutionen für die globalen Gemeingüter zu denken und aufzubauen. Solche, die die engstirnigen Interessen der nationalen Regierungen überwinden. Warum sollte es nicht möglich sein, neue globale Regulierungsstrukturen aufzubauen, die wirklich die Commoners vertreten?
Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wirtschaftliche oder nationalstaatliche Interessengruppen versuchen, den Begriff der »Commons« zu vereinnahmen. Umso wichtiger ist es, dass wir Hardins Denkfehler immer wieder bloßlegen, auf der eigentlichen Bedeutung des Begriffs beharren und Institutionen wie die NATO dazu bringen, wenigstens ab und an mit ein paar wirklichen Commoners zu reden.